der französische soziologe alain touraine in der taz vor 19 jahren über streiks in frankreich
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taz: Unerwartet erfolgreich verliefen diese Woche in Frankreich Streik- und Protestaktionen im öffentlichen Dienst. Hat die plötzlich wiederauferstandene gewerkschaftliche Einheitsfront eine neue Zukunft?

Alain Touraine: Es ist unwahrscheinlich, daß sechs Millionen Menschen objektiv alle die gleiche Lohnerhöhung benötigen. So bringt sich der öffentliche Dienst mit einem Generalstreik in eine ungünstige Lage. Forderungen, wie sie die Gewerkschaften nach der Gleichbehandlung der Beschäftigten in einzelnen Verwaltungszweigen erheben, sind abstrakt, nehmen die Leute nicht in ihrer Arbeitswirklichkeit wahr.

Zielte dann der Streik der Krankenschwestern auf eine solche Veränderung des Arbeitsalltags?

Ich stehe hundertprozentig hinter den Krankenschwestern. Die Krankenschwestern gehören einer Berufsgruppe an, deren Niveau sich sehr gehoben hat, ohne daß die Löhne dem gefolgt wären. Darüber hinaus finden ihre Forderungen Unterstützung in der Öffentlichkeit, weil diese sich auf, sagen wir, postindustriellem Gebiet bewegen. Deshalb nenne ich den Krankenschwesternstreik eine soziale Bewegung. Die Krankenschwestern verteidigen nicht nur ihre Interessen, sondern verteidigen auch die Kranken gegenüber der medizinischen Technokratie. Gerade aus diesem Grund war es nötig, die globalen Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst zu durchbrechen.

Geben Sie Michel Rocard recht, der propagiert, „von Fall zu Fall“ getrennt die Lohnverhandlungen führen zu wollen?

Ich habe mit größtem Vergnügen festgestellt, daß Rocard bisher an diesem Vorsatz festhält und sich deshalb ordentlich mit den Sozialisten anschnauzt. „Von Fall zu Fall“ deshalb, weil es nur so möglich ist, Verhandlungen auf eine reale soziale Situation zurückzuführen, in der es auch reale soziale Akteure gibt. Sind die Verhandlungssituationen abstrakt, verschleiern sie nur die Macht von Partei- und Gewerkschaftsführern. taz vom 22.10.88