ausgehen und rumstehen
: Im Berlin House Climbing Club trifft man sich, um Dielen und Flure zu durchsteigen

Eigentlich begann alles im KaDeWe. Lucy von den No Angels stolziert über den Teppich und grüßt happy in Richtung Anna Loos. Was man in Berlin prominent nennt, bemühte sich sichtlich im Foyer des 100 Jahre alten Kaufhauses, so viel Platz einzunehmen, um unweigerlich bemerkenswert auszusehen. Man ist möglichst wild drauf, gleichzeitig aber guccicool. Die Vorstellung des neuen Damenduftes der Luxusmarke gewann dabei nur langsam Kontur.

Als ein paar der hübschen jungen Kellner sich nach Feierabend in schickem Zivil unter das vorgeblich glamouröse Partyvolk mischen, verwischen sie die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit zu einem Karneval nach Geschmack des russischen Formalisten Bachtin. Der entwickelte das kulturelle Konzept der Karnevalisierung. Im Akt des Verkleidens kommt es zu einem Zustand, in dem ein geduldeter Tabubruch geschieht und sich gesellschaftliche Hierarchien auflösen.

Die ehemaligen Kellner tragen ganz selbstverständlich Prada-Schühchen und machen eine bessere Figur als die B-Prominenz. Doch sie vertragen sich, hier in dem Geräusch, das zwei Champagnergläser erzeugen. Die Fantasie, wie die Fraktionen gemeinsam die unbeleuchteten Auslagen und Konsum-Parcours des KaDeWe entlangrobben, wurde aber nur zum Teil erfüllt. Die neun Stockwerke bleiben fast menschenleer und unbewacht, die Kinderfantasie eine traumhafte Duftwolke aus Gucci, ja by Gucci.

Die dazu konträre Position traf sich am Donnerstag in der „Möbelfabrik“ zu einer Fair Trade Modenschau. Die Models sind in American-Apparel-Unterhose und bedrucktem T-Shirt gekleidet und stolpern gähnend, Zähne putzend und WG-Klischees adaptierend über den „Catwalk“. Zuletzt verteilen sie Gräser aus einer braunen Papiertüte auf dem Boden. Die Präsentation der lahmen Lumpen wirkte allerdings so grandios unfreiwillig komisch, dass die Hoffnung aufkam, dass es am Ende ein selbstreferenzieller und smarter Clou war, das Thema des Verschlafenen, des Müden und Zurückgebliebenen so stark zu machen. Vielleicht war es doch ein ironischer Kommentar, der den Mythos der korrekten, aber unstylischen Alternative nur zitiert und nicht bestätigt?

Der Berlin House Climbing Club an der Linienstraße ist ohne Internetadresse, Newsletter, ohne Namen am Klingelschild, fast unsichtbar wie die Label auf der Modenschau. Man trifft sich hier, um zu klettern. Die Eingeweihten hangeln sich den Flur entlang, anderthalb Meter über den Holzdielen, gestützt nur durch die fragile Gasleitung, die elektrische Verkabelung und die eigene Muskelkraft. Dies wird im Rahmen von Guy Debords Geburtstag als ein Live-Video in eine New Yorker Galerie übertragen. Während sich die Teilnehmer wie Spiderman der heimischen Flurwand ermächtigen, streiten die beiden Veranstalter im Nebenzimmer, ob es denn nun Kunst sei oder harter Wettbewerb. „We have to skip porn, straight to basso“, befiehlt es am nächsten Tag durchs Telefon. Also kein Indie-Porn-Festival. Angeführt von einem völlig rot angemalten Mann prozessiert im Basso ein Partyvolk unter Bannern bar jeglicher Aussage kurz in den Hof. Sie befragen ein Orakel aus gelbem Bienenwachs, aus dem einzig ein Presseausweis lugt. Niemand, den ich frage, hat kapiert, was dort geschieht, aber wir sind alle sehr ergriffen. Die Verlängerung des Basso ist der Youth Club. Innerhalb dreier Events hat sich diese Veranstaltung von zehn halbtanzenden Menschen und einem Kassenminus dahin gemausert, dass sich die Gutaussehenden, für die modischer Ausdruck offenbar gar nicht ohne bunte Verkleidung gedacht werden kann und die sich über drei Stockwerke drängen, auch schon wieder nach hinten herausquellen. Kurz: Man kam nicht mehr rein.

Dafür durfte man sich am Sonntag auf dem Designer-Flohmarkt im Modeladen Apartment die fast schon nostalgischen Ahhs und Ohhs derjenigen anhören, die im Innern des Youth Club für Platzangst gesorgt hatten. Dass die feilgebotenen Kleider von Pulver oder Reality Studio plötzlich so erschwinglich sind, schadet ihrem Glamour nicht. So viel Rausch wie hier war an diesem Wochenende nirgendwo. Die fünfte Jahreszeit, die der Verkleidung, ist um einen Monat vorverlegt auf das Wochenende, an dem die gelbbraunen Blätter des schönsten Herbstes seit Jahren von einem eiskalten Ostwind in eine neue Richtung gepeitscht werden, den bitterklaren Winter.

TIMO FELDHAUS