: „Jeder könnte Gilgamesch sein“
Von dem sumerischen König Gilgamesch berichtet ein 5.000 Jahre altes Keilschrift-Epos, das als ältestes literarisches Werk der Menschheit gilt – und ein beinahe existenzialistischer Läuterungsroman sein könnte. Eine Ausstellung zur „unsterblichen Gestalt“ zeigt jetzt das Kestner-Museum Hannover
ANNE VIOLA SIEBERT, 40, Archäologin und Historikerin, leitet seit 1999 die Antikensammlung des Kestner-Museums Hannover.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Frau Siebert, der sumerische König Gilgamesch war ein Tyrann, der erst spät zum gütigen Herrscher wurde. Warum widmen Sie so einem eine Ausstellung?
Anne Viola Siebert: Erstens ist das Ungehobelte, Kantige ja manchmal spannender als das Glatte, Unprofilierte. Zweitens ist die Geschichte Gilgameschs die einer Läuterung. Vom heldenhaften, aber unflätigen jungen König entwickelt sich Gilgamesch zum weisen, gerechten Herrscher, als der er schließlich in die Geschichte einging. Das Epos, das seine Entwicklung beschreibt, ist mit seinen 5.000 Jahren immerhin das älteste literarische Werk der Menschheitsgeschichte.
Vergleichbar mit den Papyri der Ägypter?
Nein. Denn das sind ja meist auf die Götter bezogene Texte, die nicht als Epos gelten können. Und sie zeichnen auch nicht die Entwicklungsgeschichte eines Menschen nach. Das Gilgamesch-Epos leistet das aber und ist deshalb ein geeigneter roter Faden für eine Ausstellung, die die altbabylonische Kultur beleuchtet.
Wie ist Ihre Ausstellung aufgebaut?
Wir haben neun Stationen erstellt, anhand derer wir den Lebensweg Gilgameschs und seines Freundes Enkidu, den ihm die Götter zur Seite stellten, damit er einen ebenbürtigen Partner hätte, nachvollziehen. Der Parcours beginnt mit der sumerischen Stadt Uruk, in der Gilgamesch herrschte, setzt sich fort mit der Schaffung Enkidus, der Begegnung mit dem Wächter des Zedernwaldes, dem Streit mit Ischtar, der er sich verweigerte, und reicht bis zu Enkidus Tod, anhand dessen wir etliches zum Totenkult präsentieren.
Sind diese Stationen geographisch oder thematisch gemeint?
Thematisch. Das geht auch gar nicht anders, denn es ist immer noch nicht klar, wo sich die Geschichte im Einzelnen abspielt. Sicher ist nur, dass die Szene, in der Gilgamesch und sein Freund auf Chumbaba, den Hüter des Zedernwaldes, treffen und ihn umbringen, im Libanon liegen muss.
Aber der Parcours beginnt mit dem durchaus zu verortenden sumerischen Uruk.
Ja, weil es Ausgangspunkt der Geschichte ist. Außerdem ist diese Stadt, die Gilgamesch nach einer großen Flutkatastrophe wieder aufbaute, ein gutes Beispiel für frühen geplanten Großstadt-Bau – und eine Chance für eine Weiterentwicklung der Zivilisation, für die Gilgamesch seither gerühmt wurde. Denn in der Antike gingen die Sumerer und Babylonier von einer realen Existenz des Königs Gilgamesch aus. In Wirklichkeit ist er natürlich eine mythologische Figur.
Gilgamesch hat also nie existiert?
Nein. Das beweist auch der Name: Gilgamesch bedeutet im Akkadischen einfach „heldenhafter junger Mann“. Er steht für einen idealen Herrscher, der aber erst reifen musste. Hierin liegt eine der zentralen Aussagen des Epos.
Dieses ist ja eine Ansammlung ursprünglich zusammenhangloser Episoden. Wie kann eine derart inkohärente Geschichte als literarisches Meisterwerk gelten?
Man muss es sich so vorstellen, dass jahrhundertelang mündlich tradierte Versionen dieser Geschichten existierten – verschiedene Auflagen sozusagen –, die irgendwann verschriftlicht wurden. Das trifft auf das Gilgamesch-Epos ebenso zu wie auf den trojanischen Sagenkreis, den das als „Homer“ bekannte Autorenkollektiv irgendwann niederlegte. Und auf die Bibel. Auch sie ist ja eine Auswahl aus einem großen Fundus an Geschichten, die irgendwann zusammengestellt und als verbindlich erklärt wurde.
Stellen Sie auch originale Keilschrift-Tafeln des Gilgamesch-Epos aus?
Ja. Wir haben eine zwischen 1900 und 1600 entstandene Tontafel, die allerdings eine Vorform des Epos ist. Eine frühere Auflage sozusagen.
Ist das Gilgamesch-Epos, in dem ja große Teile fehlen, inzwischen komplett entziffert? Es gab da ja lange Probleme mit einzelnen Vokabeln, die sich nicht zuordnen ließen.
Im Großen und Ganzen schon. Inhaltliche Überraschungen erwarten wir jedenfalls nicht mehr. Wohl aber tauchen – in Palastarchiven oder bei neueren Ausgrabungen – immer mal wieder Textstücke auf, die das Epos vervollständigen. „Missing links“ sozusagen. 2003 und 2005 sind zum Beispiel nochmals mehrere solcher Tafeln entziffert worden.
Manche halten das Epos für zutiefst existenzialistisch: Es leugnet nicht die Endgültigkeit des Todes und rät den Menschen auch nicht, den Göttern gefällig zu sein. Ist es die Geschichte zunehmenden Selbstbewusstseins und des Scheiterns an der Suche nach Unsterblichkeit?
Durchaus. Denn die Tatsache, dass sich Gilgamesch der Liebesgöttin Ischtar, die sich in ihn verliebt, verweigert, deutet auf ein starkes Selbstbewusstsein hin. Zugleich ist es ein ungeheurer Frevel, sich den Wünschen der Götter zu widersetzen. Und wenn man bedenkt, dass Gilgamesch und Enkidu den daraufhin entsandten Rache-Stier einfach töten, dann ist die Macht der Götter schon begrenzt. Andererseits strafen sie Gilgamesch extrem, indem sie seinen Freund Enkidu sterben lassen.
Der Moment seiner Läuterung?
Ich denke schon. Denn hier – im Angesicht des Todes – begreift Gilgamesch, dass er nicht allmächtig ist und dass die Dinge vielleicht anders gekommen wären, wenn er anders gehandelt hätte. Diese Erkenntnisse setzt er später um, als er Uruk nach der Sintflut wieder aufbaut – als Zeichen einer neuen Zivilisation und einer gerechten Ära sozusagen.
Ist diese Flut historisch belegt?
Ja. Es steht inzwischen außer Zweifel, dass es wahrscheinlich im zweiten Jahrtausend vor Christus eine flutähnliche Katastrophe im Vorderen Orient gab. Das konkrete Ausmaß ist nicht bekannt, aber es hat in diesem Zusammenhang eine Flutung des Roten Meeres und die folgende Absenkung des Seespiegels geben. Ursache war vermutlich ein Dammbruch zwischen dem Schwarzen Meer und dem Persischen Golf. Dieses Ereignis hat die Reflexion existenzieller Fragen befördert, wie sie auch in der Bibel beschrieben sind.
Ist also auch das Gilgamesch-Epos eine Verarbeitung dieser Flut – und die Flut Strafe und Chance zur Läuterung?
Das ist möglich, aber natürlich schwer nachzuweisen. Ich finde aber schon interessant, dass zwei so große literarischer Werke, deren geographische Ursprünge nah beieinander liegen, dieses markante Thema aufgreifen. Und die Parallelen reichen ja bis in die Motive hinein: die Vorstellung von einem Menschen, der ein rettendes Schiff bauen soll, in das Tiere paarweise verfrachtet werden sowie der Vogel, den man aussendet, um festzustellen, ob schon wieder Land in Sicht ist: Hier decken sich die beiden Werke bis ins Detail.
Zurück zur Ausstellung jetzt in Hannover: Die wirbt damit, sich auch der Tempelprostitution zu widmen. Ist das nicht unnötig populistisch?
Nein, das ist integraler Bestandteil der archäologischen Bestandsaufnahme. Wir präsentieren natürlich keine Pornographie. Aber wir zeigen anhand von Tonterracotten weibliche Idole, die für das stehen, was damals Teil der religiösen Praxis war: die Hingabe an die Götter, insbesondere an die Frauen im Ischtar-Tempel. Das ist eine kulturhistorische Gegebenheit.
Ist Gilgamesch, ob historisch existent oder nicht, eigentlich irgendwo abgebildet?
Ich kenne keine Abbildung. Da es ja außerdem um eine Idee, einen Typus geht, kann Gilgamesch theoretisch jeder sein. Wir haben allerdings einige Stempelsiegel, die einen jugendlichen König zeigen, der mit einem Löwen ringt und den Gebildeten, Gelehrten symbolisiert, der das Wilde, die Natur zähmt. Das tut ja auch Gilgamesch im Laufe seines Lebens.
Die Ausstellung „Gilgamesch – Archäologie einer unsterblichen Gestalt im Alten Orient“ ist bis zum 24. 2. 2008 im Kestner-Museum Hannover (www.kestner-museum.de) zu sehen.
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