Missbrauchs-Prävention auf dem Land

In Niedersachsen soll ein Präventionsnetzwerk gegen Kindesmissbrauch aufgebaut werden. Angefangen wird damit in Regionen, die es am wenigsten nötig haben. Dabei sind Kinder in großen Städten leichter aus dem Blick zu verlieren

Für ein Moped oder manche Rollstühle braucht man einen Führerschein. Ob man in der Lage ist, ein Kind zu erziehen, kontrolliert niemand. Schlimmstenfalls enden Dramen überforderter Eltern wie beim 2-jährigen Kevin aus Bremen.

Lüneburg ist die erste von vier Niedersächsischen Städten, in denen das Präventionsprojekt „Frühe Hilfen“ anläuft. Damit sollen Kinder in den ersten Lebensjahren vor Gewalt geschützt werden.

Während es in Kindergärten und Schulen oft auffällt, wenn ein Kind körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist, gibt es vor dem dritten Lebensjahr dazu kaum Gelegenheit. Und auch wenn Ärzten im Rahmen der Pflicht-Untersuchungen blaue Flecken oder andere Warnsignale auffallen, alarmieren sie oft nicht die Polizei – aus Angst, die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen und deswegen mit einem Berufsverbot sanktioniert zu werden.

Dass der Verdacht auf Kindesmissbrauch jedoch von der Schweigepflicht entbindet, wissen viele Ärzte nicht. Dazu soll ein von den „Frühen Hilfen“ publiziertes Handbuch helfen, das Ärzten Anlaufstellen im Landkreis auflistet.

Ziel der „Frühen Hilfen“ ist es auch, ein Netzwerk zwischen Ämtern, Justiz, Polizei, Ärzten, Hebammen und Pädagogen aufzubauen, um so kritische Fälle von mehreren Seiten zu beobachten. „Jeder hat seine eigene Sichtweise, wo die Gefährdung von Kindeswohl anfängt und wie ihr zu begegnen ist“, sagt der Lüneburger Stadtrat Peter Koch. „Hier brauchen wir eine eindeutige Definition.“

Auch wenn die Umsetzung bis hierher einleuchtet – keiner der bekannten Fälle von Kindesmissbrauch hat in ländlichen Gegenden stattgefunden. Jessica verhungerte in Hamburg, Kevin wurde im sozial schwachen Bremer Stadtteil Gröpelingen ermordet.

Niedersachsens nächste Anlaufstellen für „Frühe Hilfen“ sind Oldenburg, Braunschweig und – immerhin – Hannover. „In großen Städten besteht natürlich viel eher das Problem, dass man gefährdete Kinder aus dem Blick verliert“, bestätigt Peter Koch. „Hier in Lüneburg kennen sich alle und arbeiten engagiert zusammen.“ Das Land habe Interesse, das Modell auch in einer Kommune mit ländlichem Umfeld auszuprobieren. Dazu erhält die Stadt Lüneburg etwa eine Viertel Million Euro. Zwei Mitarbeiter des Lüneburger Sozialdienstes sind damit die nächsten drei Jahre für den Aufbau des Netzwerks zuständig. In Thüringen zahlt das Land für das vergleichbare Projekt „Guter Start ins Kinderleben“ knapp die Hälfte – dort werden Wirksamkeit und Nutzen des Projektes jedoch nicht wie in Niedersachsen evaluiert.

Parallel zu den „Frühen Hilfen“ finanziert Niedersachsen auch als erstes Bundesland Familienhebammen. Die sollen Schwangere in schwierigen Lebenslagen bis zu einem Jahr nach Geburt des Kindes begleiten und so überforderte Mütter entlasten. JESSICA RICCÒ