Soll die Entwicklungshilfe abgeschafft werden?
JA

NORD-SÜD Zu seinem fünfzigsten Geburtstag wird das Entwicklungsministerium gefeiert. Dabei sind sich Experten uneinig, ob es hilft oder schadet

Die sonntazfrage wird vorab online gestellt.

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Volker Seitz, 68, war Botschafter und ist Autor des Buchs „Afrika wird armregiert“

Wozu gibt es das Berufsbild des Entwicklungshelfers? Weil wir uns nie wieder entbehrlich machen wollen. Die Entwicklungshelfer haben lange so getan, als könnten sie immer alle Probleme lösen. Dadurch verloren viele Menschen den Sinn für Eigenverantwortung, und der vielfach abgenutzte Slogan „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird zur hohlen Phrase. Welche Hilfsorganisation hat sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, in einem überschaubaren Zeitraum nicht mehr zu existieren? Seit Jahrzehnten wird Entwicklungspolitik mit einem gigantischem Personal- und Finanzeinsatz betrieben. Trotzdem werden die Minimalziele nicht einmal annähernd erreicht. Länder wie Ruanda, Botswana, Mauritius oder Ghana zeigen, dass sie mit eigener Kraft vorankommen. Dauerhilfe aus dem Ausland dagegen zementiert die Abhängigkeit der Regierungen und verlangsamt eine nachhaltige Entwicklung. Warum reden wir den Afrikanern immer wieder ein, dass sie ihre Probleme nicht selbst lösen können? Es scheint schwer zu sein, die Menschen einfach ihren eigenen Ideen zu überlassen. Immer nimmt sie jemand bei der Hand.

Niko Johann, 25,studiert Gender Studies. Er hat die Frage auf taz.de kommentiert

Die sogenannte Entwicklungshilfe wird ihrem Namen nicht gerecht. Was da passiert, trägt nicht dazu bei, die Situation notleidender Menschen langfristig zu verbessern. Im Gegenteil, dadurch, dass die Probleme nicht an der Wurzel angepackt werden, sondern bloß die Folgen behoben werden, wird der Nährboden für ein Immer-weiter-so gelegt. Entwicklungshilfe reproduziert genau das, was sie vorgibt abzuschaffen. Gleichzeitig wird unter dem Deckmantel der helfenden Hand operiert, frei nach dem Motto: Wer könnte etwas dagegen haben, für hungernde Kinder Essen bereitzustellen? Die Konsequenz ist, dass die Probleme, die hinter Armut und Hunger stehen, ausgeblendet werden. Die Millionen, die lockergemacht werden, haben also zweierlei Effekt. Sie erhalten den Status quo aufrecht. Und sie geben das gute Gefühl, etwas getan zu haben. Am Ende stehen wir als reiche Nation ganz ordentlich da: Wir sehen das Übel der Welt – und helfen. Wer aber wirklich helfen will, sollte die Entwicklungshilfe hinter sich lassen.

Brigitte Erler, 68, war Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland

Entwicklungshilfe beruht auf einem Interessengeflecht zwischen international ausufernder Entwicklungshilfebürokratie samt Consultingunwesen und der Exportindustrie, die so für lau überall einen Fuß hineinbekommt. Warum bekämen sonst China, Indien und Brasilien immer noch „Hilfe“? Dritte im Bunde sind die Herrschenden in den Entwicklungsländern, die für die Armut in ihren Ländern wesentliche Verantwortung tragen. Massenmörder wie Kagame in Ruanda werden so an der Macht gehalten. Entwicklungspolitik hilft außenpolitisch Einfluss zu nehmen und Rohstoffe zu sichern. Sie sollte deshalb als Außenwirtschaftsförderung ins Wirtschaftsministerium eingegliedert werden. Wollten die Industrieländer wirklich den Armen in der Dritten Welt helfen, müsste man gegen die von hier ausgehenden Übel vorgehen wie das Leerfischen küstennaher Gewässer, die Vertreibung der Kleinbauern von den fruchtbarsten Böden für den Export, Landkauf durch Konzerne und Spekulation mit Nahrungsmitteln.

NEIN

Heidemarie Wieczorek-Zeul, 68, SPD, Exbundesentwicklungsministerin

„Entwicklungshilfe“ ist längst abgeschafft. Die patriarchale Vorstellung, dass wir geben und andere nehmen, ist längt überwunden. Sie ist nur noch als absurdes Stereotyp erhalten. Weltweite Armut und Ungleichheit müssen überwunden werden. „Die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit sind eine kleine Investition, die einen großen Ertrag hervorbringt“, hat Bill Gates den G-20-Vertretern gerade ins Stammbuch geschrieben! Würden die Zusagen der Finanzierung eingehalten, würden 80 Milliarden US-Dollar für Entwicklungszusammenarbeit bis 2015 mobilisiert. Durch den Schuldenerlass von 1999 konnten 34 Millionen Kinder in Afrika zusätzlich zur Schule gehen. Und durch die Arbeit des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids wurden sieben Millionen Menschenleben gerettet. Entwicklungspolitik muss helfen, in den Wellen des globalen Wandels zu steuern: die ökonomische Globalisierung, die weltweiten Machtverschiebungen und die Klimaveränderung! Globale Gestaltung ist notwendig und nicht die Renationalisierung der deutschen Entwicklungspolitik.

Rupert Neudeck, 72, Gründer von Cap Anamur und Vorsitzender der Grünhelme

Die Entwicklungshilfe der nächsten Jahre sollte uns von unseren parakolonialen Eierschalen befreien. Mit zwei Ländern sollten wir in dem Kontinent große Partnerbeziehungen aufnehmen, der es am nötigsten hat. Wenn man sich vorstellt, was das deutsche Geld – 5,8 Milliarden Euro – in zwei Ländern Afrikas anrichten könnte, einem an der Küste in Tansania und einem Binnenstaat wie Ruanda, könnte man in fünf Jahren eine ganz andere Bilanz ziehen: Wir wären mit den Menschen in Tansania und denen in Ruanda so eng vernetzt, dass wir gar nicht mehr wüssten, wie wir etwas anderes überhaupt haben beginnen können. Die Entwicklungshilfe könnte dort in den nächsten Jahren für die Infrastruktur sorgen, die im Verkehr und Energiebereich nötig sind. Damit eine duale Berufsausbildung und eine arbeitsplatzintensive Industrie dorthin kommt. Das wäre dann der Abschied vom Kalten Krieg, in dem wir die 130 Staaten der Habenichtse-Kontinente mit Entwicklungshilfe bezirzen und bestrafen mussten. Dieser Abschied ist nicht geschafft. Und er wird schmerzlich sein, mit einer Abschaffung der Helfer- und Consultants-Bataillone, eines ganzen Ministeriums, des „Weltwärts“-Unfugs, einer GIZ. Die Zukunft der Entwicklungshilfe wird nur so möglich sein.

Paul Bendix, 65, ist seit elf Jahren Geschäftsführer von Oxfam in Deutschland

Die Abschaffung der Entwicklungshilfe wäre fatal. In vielen armen Ländern werden staatliche Ausgaben zu mehr als einem Drittel von der Gebergemeinschaft getragen. Würden diese Leistungen eingestellt, müssten wichtige öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheitsfürsorge und Bildungsangebote drastisch reduziert werden. Das hätte dramatische Folgen, besonders für die in Armut lebende Bevölkerung. Entwicklungszusammenarbeit muss künftig stärker dazu beitragen, nachhaltige, gerechte Strukturen in Entwicklungsländern zu schaffen. Arme Länder müssen bei der Armutsbekämpfung und dem Aufbau staatlicher Systeme unterstützt werden, etwa zur Erhebung von Steuern. Wo dies bereits praktiziert wird, steigen die staatlichen Einnahmen und so die Möglichkeiten von Entwicklungsländern, sich selbst zu helfen.