norman birnbaum vor 18 jahren in der taz über die demonstrationen in ost-berlin
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Das Zurückweichen des neostalinistischen Regimes vor der erregten Bürgerschaft in Ostdeutschland setzt die deutsche Frage wieder einmal auf die historische Tagesordnung. Um es gleich zu sagen, dort war sie eigentlich immer, aber zynische Politiker und ihre befangenen „Experten“ zogen es vor, sie unter den Tisch fallen zu lassen. Die verschiedensten Kniffe wurden benutzt, um die Nachkriegsregelungen als ewig und unerschütterlich darzustellen. 1952 lehnte die Regierung Adenauer das Stalinsche Angebot ab, im Austausch mit der Neutralität Deutschlands die Wiedervereinigung herbeizuführen – während natürlich gleichzeitig wacker weiter der unwandelbare Wunsch nach Wiedervereinigung proklamiert wurde. Amerikanische und auch andere alliierte Politiker fordern in einem immer wiederkehrenden Ritual den Fall der Berliner Mauer allerdings in der sicheren Überzeugung, daß sie stehen bleibt.

Heute, wo die Frage wieder auf dem Tisch ist, sind die meisten Stellungnahmen durch Angst, Orientierungslosigkeit und Ignoranz gekennzeichnet. Speziell die Franzosen scheinen unfähig zu sein, die Jahreszahlen 1914 und 1939 hinter sich zu lassen. Erinnerungen an die Verheerungen der Nazis, reaktiviert durch die Aktionen lautstarker Revanchisten auf der westdeutschen Rechten, sind es auch, die die Tschechoslowaken aufschrecken lassen und vor allem die Polen.

Den Deutschen kann aber nicht das Recht auf Selbstbestimmung verweigert werden, das wir für andere so lauthals fordern. Der westdeutsche Außenminister Genscher hat hier Weitblick: In Weiterverfolgung von Ideen von Willy Brandt, meint er, daß das deutsche Problem im Rahmen einer Europäisierung Europas gelöst werden muß. Das heißt, eine Lösung ist möglich, wenn die beiden Hälften Europas ihre jeweiligen Supermächte abschütteln und gleichzeitig beides werden: sowohl autonomer wie auch politisch, kulturell und ökonomisch verbundener.

Norman Birnbaum, 7. 11. 1989