REINHARD WOLFF ÜBER DEN AUSGANG DER WAHLEN IN ESTLAND
: Ukraine nur Thema am Rand

Insgesamt ein Rechtsruck, doch von den bisherigen Parlamentsparteien konnte als einzige ausgerechnet die als „moskaufreundlich“ geltende linke Zentrumspartei zulegen. So lässt sich das Ergebnis der Parlamentswahlen in Estland zusammenfassen. Und inwieweit spiegeln sich darin die Vorgänge in der Ukraine wider? Die Wahl ist vermutlich nur am Rande von diesem Thema beeinflusst worden. Im Wahlkampf spielten sicherheitspolitische Fragen allein deshalb kaum eine Rolle, weil es parteipolitische Kontroversen dazu nicht gab: Keine Partei stellt die feste Verknüpfung in das Nato-Bündnis und die Westanbindung des Landes infrage.

Die EstInnen bewegte ein ganz anderes Thema: ihre eigene wirtschaftliche und soziale Situation und die ihres Landes. Mag Estland in einer kriselnden Eurozone immer wieder als Vorbild genannt werden, weil die Kennzahlen ein über dem Durchschnitt liegendes Wirtschaftswachstum vermelden: Die Wahrheit für die breite Bevölkerung sieht anders aus. Nur bei einer schmalen Oberschicht kommt dieses Wachstum in Form steigender Einkommen und Vermögen an. Die Realeinkommen sind seit acht Jahren nicht gestiegen, die Arbeitslosigkeit hat sich dagegen fast verdoppelt, und die Emigration ist stetig gewachsen, weil immer mehr junge und gut ausgebildete Leute keine Zukunft in ihrer Heimat sehen.

In den wachsenden sozialen Gräben dürfte man auch Antworten auf die Fragen finden, warum zum einen die Zentrumspartei zulegen konnte und warum zum anderen gleich zwei neue Protestparteien auf Anhieb die Sperrklausel nehmen konnten. Das Land wird vermutlich aber auch in Zukunft von den auf neoliberalen Kurs festgelegten Mitte-rechts-Parteien gesteuert werden, die Estland seit 15 Jahren regieren. Für weite Teile der Bevölkerung ist das keine gute Nachricht.

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