Flaschendrehen in Riga

Alvis Hermanis’ „Sound of Silence“ ist eine Wimmelbild-Revue, die nach Simon & Garfunkel klingt. Im Haus der Berliner Festspiele zeigt der Lette, wie sich Hippies arglos knutschend selbst befreien

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Schon der Gang zu den Plätzen ist ein Erinnerungstunnel. Links und rechts Schwarzweißfotografien: Porträts von verträumten Gestalten vor schmutzigem Schnee, hornbebrillten mit Blumen in den Händen, Langhaarigen in bukolischer Verstrahltheit. Es sind Fotos von lettischen Hippies in Riga, Ende der Sechziger. Eine kleine Community von Blumenkindern gab es dort, einen kleinen Zirkel von Künstlern und Lebenskünstlern, die in dem damals sowjetisch besetzten Staat das Libertäre, das aus dem Westen herüberschwappte, vor allem als Recht auf einen gänzlich unpolitischen, poetischen Alltag deuteten.

In seinem neuen Stück „The Sound of Silence“, das am Freitag im Haus der Berliner Festspiele Uraufführung hatte, erinnert der 1965 geborene lettische Regisseur Alvis Hermanis an just diese Leute. Und er tut es als rückwärts gewandte Fortsetzung seines Stücks „Long Life“ von 2004: Er lässt die Seniorenwohngemeinschaft aus dem heutigen Riga quasi vierzig Jahre früher noch einmal auftreten, und wieder nimmt er allen Akteuren die Worte.

Die Stille aber, die durch nicht sprechende Schauspieler entsteht, hat bei Hermanis nichts zu tun mit hypersignifikanter Erdenschwere und beklemmender Wortlosigkeit. Nein, Hermanis’ „Sound of Silence“ ist meist sehr laut und klingt nach Folkgitarren und den sanften Stimmen zweier Männer aus New York. Kurz: drei Stunden lang nach Simon & Garfunkel.

Auf den Plätzen sitzt man dann vor einem Dachboden. Erst durchwühlen zwei aufgedreht kichernde Mädchen im Sixties-Retrolook das darin verstreute Fundusgerümpel. Unmengen von Einweckgläsern, Bücherstapeln und ausgemusterten Musikabspielgeräten, die nichts anderes von sich geben als „Hello darkness, my old friend“. Dabei werden sie überrascht von einer Hauswirtin, die vier Männer in mausfarbenen Anzügen auf den Dachboden lotst. Sehr klandestin tun die, als kämen sie zu einer verbotenen Séance. Die Wirtin drückt ihnen Kopfhörer auf die Ohren, und mit offenen Mündern lauschen sie „Mrs. Robinson“, bis sie wieder fortschickt werden. Da haben sie sämtlichst Tränen in den Augen.

Mit nostalgischem Geseufze oder kichernder Ironie haben die vielen kurzen Szenen, die sich dann aneinanderreihen, allerdings nicht viel zu tun. Vielmehr entfaltet das junge zwölfköpfige Ensemble des Jaunais Rigas Teatris in der Folge eine kurzweilige Sixties-Revue, vollgepfropft mit hübschen, gewitzten, auch mal platten Aperçus. Da wird an den Einweckgläsern das Küssen geübt, da werden Haare glatt gebügelt und Flaschen gedreht. Da wird geknutscht und gekuschelt, da werden Drogen probiert und Partner getauscht. Manche Jungs ziehen unbändig an den Nylonstrümpfen der Mädchen, andere betrachten minutenlang getrocknete Blumen. Viel wird in Büchern gelesen, und manchmal fiindet sich zwischen den Seiten eine Feder, die dann vom gesamten Ensemble lange pustend in der Luft gehalten wird. Mit größtmöglicher Arglosigkeit also wird an der Überwindung von Verklemmtheit und an der Hingabe an die lyrischen Seiten des Lebens gearbeitet.

Und dazu ständig Simon & Garfunkel: „The Boxer“ quillt aus den Einmachgläsern, „Scarborough Fair“ tönt aus aufgeschlagenen Büchern, „Homeward Bound“ entsteigt den Blümchenkleidern, und „Mrs. Robinson“ wird besonders laut, als ein Körpererforscher die Radioantenne in Kontakt mit den sekundären und primären Geschlechtsorganen einer Frau bringt. Das ganze Stück ergibt sich also einer Simon-&-Garfunkelhaftigkeit: einer Mischung aus Beschwingtheit, süßlicher Oberflächlichkeit, harmoniegetränkter Deepness und manchmal schwer zu ertragender Naivität.

Im zweiten Teil aber büßt die Inszenierung an Fahrt ein. Das Stück löst sich aus der Momentaufnahme und erzählt die Geschichte weiter. Aus den verspielten Welpen werden Hochzeitspaare, dann Eltern, und das unschuldige Jeder-mit-jedem verendet in furnierten Ehebetten. Zum Schluss treten wieder sich sehnsüchtig erinnernde Spießer in den mausfarbenen Anzügen auf – das also ist aus den Langhaarigen geworden.

Hermanis’ Stück ist aber keine kritische Auseinandersetzung mit ’68. Es ist ein sehr wohlwollend gestimmtes Zeitgeisttableau, das manchmal nah dran ist am Improvisationsworkshop und manchmal zu sehr auf Lacher kalkuliert scheint. Meist aber ist es eine warmherzige, leichtfüßige Wimmelbild-Revue, die vorführt: ’68 hat heute noch das Potenzial, nachgeborenen Schauspielern und Regisseuren Unmengen an Ideen und Assoziationen zu liefern. Auch Simon & Garfunkel funktionieren immer noch prächtig, obwohl man nach dem fünften Mal „Mrs. Robinson“ an einem Abend jetzt erstmal wieder zehn Jahre Pause braucht.

Weitere Aufführungen: heute und morgen, jeweils 20 Uhr