Suhrkamp auf Ohr

Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz huldigt in der Volksbühne ihrem Hausautor Dietmar Dath. Der zeigt sich bestens aufgelegt und rühmt seinerseits Phantom/Ghost

Von Lowtzow erhebt sein Champagnerglas, das Publikum durchlebt wohlige Schauer

Dass Dietmar Dath aus einem neuen Buch liest – und er hat das infolge seines nahezu titanenhaften literarischen Ausstoßes in letzter Zeit nicht selten getan –, ist an sich nichts Besonderes. Findet das in Berlin statt, so bietet sich zum Beispiel der eher unspektakuläre Festsaal Kreuzberg an. Hier stellte der Autor im vergangenen Jahr seinen vorletzten Roman „Dirac“ vor. Am Dienstagabend lagen die Dinge aber anders, und das mit einem überschaubaren Publikum gleichwohl bis auf den letzten Platz gefüllte Sternfoyer der Volksbühne erlebte eine Veranstaltung mit offiziösem, nahezu festaktartigem Charakter.

Schließlich begleitete die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz ihren Schriftsteller höchstselbst nach Berlin und überließ ihm das Podium erst nach einer Huldigung, die alle übrigen Hausautoren vor Neid erblassen lassen müsste. Schon seit längerem ist klar, dass die Suhrkamp-Chefin mit Dath besonders Großes vorhat. Ihre Verehrung seiner Prosa (an diesem Abend: „Waffenwetter“) spielt schon ins Religiöse. Und dabei meint sie nicht das Naheliegende: nicht Daths intellektuelle Schärfe, seine zeitgeistige Hellsichtigkeit oder Beschlagenheit in den präzisen Wissenschaften.

Unseld-Berkéwicz beschwört vielmehr den Ton, der die Musik macht: „Waffenwetter muss mit dem Ohr gelesen werden.“ Nur so sei Erleuchtung, sogar Erlösung möglich. „Anhören können sich das alle. Moralisch verbessert und erhoben werden aber nur die Gläubigen.“ Dies ist ein Ball, den Dath gern weiterspielt. Der Abend bietet ein Double-Feature, nach der Lesung stehen Phantom/Ghost auf dem Programm, das kammermusikalische Projekt des Tocotronic-Sängers Dirk von Lowtzow und des Pianisten Thies Mynther.

Wer die Bedeutung der musikalisch-literarischen Liaison ermessen will, sollte wissen, dass sich einige Zeilen aus „Kapitulation“ auch in „Waffenwetter“ wiederfinden. Hier schlagen Künstlerherzen im Takt, sodass der bekennende Phantom/Ghost-Fan Dath das Lob der bekennenden Dath-Verehrerin Berkéwicz aus voller Überzeugung weiterschenkte – wenn auch leicht effektverzerrt: „Thies Mynther“, sagte Dath, „kennt sich im Tonstudio aus wie die Schlange im Paradies.“

So weit, so gut. Nun las Dath und zeigte, wie man einen im Druckbild eher trockenen Text durch lautes Lesen tatsächlich in Musik verwandeln kann: mit rasanten Tempowechseln zwischen atemloser Beschleunigung und abrupter Verlangsamung, mit beiläufig Genuscheltem und dialektal Gefärbtem.

Auch wenn der Autor („Ich bin kein Mädchen“) jeden Anverwandlungsversuch an seine neunzehnjährige Protagonistin Claudia Starick ausdrücklich von sich weist, gelang ihm dabei doch genau das: eine zumindest glaubhafte Näherung an den Kosmos einer gewitzten Abiturientin; ihre Hassliebe zur gleichaltrigen Freundin, den Spott für die verklemmten Lehrer und die prägende Beziehung zu Großvater Konstantin, dem es irgendwie gelingt, sein millionenschweres Bankkonto mit einer kommunistischen Gesinnung unter einen Hut zu bringen.

Tatsächlich ist es der Sound, durch den Dath plastisch macht, wie sich die Weltwahrnehmung seiner Protagonistin in den Eigenheiten ihrer Sprechweise niederschlägt: eine im Dauergespräch verhedderte Telefonschnur („Kringelkringel“), die überzeichnete Dramatik eines Unfalls im arktisch kalten Alaska – der Elch wurde, wie Claudia vermutet, gleich von drei Pickups überfahren. Dabei störte nicht, dass sich die großen Themen des Romans, der militärische Geheimkomplex, die manipulierte Veränderung des Wetters, Hochfrequenzantennen und Hirnforschung in diesen Passagen höchstens sachte andeuteten.

Wer nun aber unvorbereitet in die plötzliche Vollbremsung ging, die der nahtlos anschließende Auftritt von Phantom/Ghost mit sich brachte, drohte aus der Kurve zu fliegen. Ein vom Klavier aus mit schlichtesten Mitteln geknüpfter Teppich aus Melancholie, dann Dirk von Lowtzow, der Zeilen wie „Go and catch a falling star“ ins Mikro raunte. Und versonnenen Blickes an der Gürtelschnalle nestelt. „How beautiful we are. My sleeping star.“ Was ist das? John Cale für Kinder, Richard Clayderman auf Valium?

Weit gefehlt! Phantom/Ghost sind lupenreiner Diskurspop, und schon der Bandname besagt, dass Gesten hier leer sind, weil sie leer sein müssen, und nichts so sehr in Frage steht wie der erste Augenschein. Wenn dann von Lowtzow das Champagnerglas erhebt, durchlebt sein Publikum wohlige Schauer ob dieses subversiven Akts. Wie heißt es gleich? Harmonie ist eine Strategie. Oder aber es ist so, wie die Verlegerin sagt: „Anhören können sich das alle. Moralisch verbessert und erhoben werden aber nur die Gläubigen.“ Jede Wette, die Tage sind gezählt: Dirk von Lowtzow kommt. In der edition suhrkamp. Ein schmales, ein schönes Bändchen. Und voller Poesie.

RONALD DÜKER