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: Jenseits von Gut und Böse: Wenn Reiner der Weiner im Tränensee auf den bunten Hund kommt

Manchmal, wenn ich beobachte, wie Eltern ihren Kindern gutes Benehmen beibringen wollen, frage ich mich, wie oft Kinder eigentlich „bitte“ und „danke“ sagen sollten. Kann das wirklich gar nicht oft genug sein? Oder eine andere Szene: Ein kleiner Junge hat seinem Freund beim Spielen Sand auf den Kopf geworfen. Die Mutter hat das gesehen und fordert: „Entschuldige dich bei Jonas.“ Der Sohn will nicht, die Mutter insistiert, es gibt Tränen, Geschrei und am Ende ein kleinlaut hingenuscheltes „Entschuldigung“.

Diese Situation kam mir in den Kopf, als ich das Bilderbuch über das Eichhörnchen Luki angeschaut habe. Luki hat eine Nuss verloren. Die ist dem Wildschwein Romeo aus Versehen auf die Nase gefallen. Die Nuss war klein, das Schwein ist groß, und Absicht war es auch nicht. Aber Luki hat ein furchtbar schlechtes Gewissen. Hätte er die Nuss doch besser festgehalten! Oder gar nicht erst Nüsse gesucht! Und jetzt liegt Romeo vielleicht wehrlos im Schnee, verletzt „an seiner Seele und seiner Nase“. Luki schämt sich so sehr, dass er sich bei seinem Freund im Hasenbau verstecken will. Der Hase hat eine andere Idee. Er überredet Luki, sich beim Wildschwein zu entschuldigen. Eine mutige Tat, sich so zu überwinden, behauptet das Buch. Ganz schön unterwürfig, denke ich und wünsche mir etwas von der alten Pippi-Langstrumpf-Respektlosigkeit zurück. Die gezielte Grenzverletzung, das Austesten von Regeln durch ihre Überschreitung: Eltern wie Kinderbuchautoren finden daran nur noch wenig Gefallen. Trotz, Frechheit, Aggressivität – bitte nicht mit uns. Überhaupt: das Böse. So recht interessiert es niemanden mehr, auch nicht in seinen subtilen Formen.

Das ist schon seltsam, auch wenn man es nicht in jedem Fall beklagen muss. Denn es gibt wunderbare Bilderbücher, in denen Illustratoren und Autoren zumindest mal die ästhetischen Grenzen ausreizen. Der neue Berliner Tulipan Verlag spielt da mit seinem ersten Herbstprogramm gleich ganz vorne mit. „Was ist eigentlich ein Tulipan?“, fragt der Illustrator und Autor Martin Baltscheid. Gedichte, Geschichtsfragmente, Collagen rund um das altertümliche Wortungetüm, das dem Verlag den Namen gibt: Das ist leichthändig, komisch und voller Überraschungen. Es gibt Tulipi-Indianer und ein Tulimenuett, Tulipan-Forte-Tropfen und eine Tulipabrigg. Einen Tulipanteufel allerdings gibt es nicht. Auch wenn es absurd wäre, dies dem Autor vorzuwerfen – bemerkenswert ist es schon.

Ähnliches gilt für das schöne Bilderbuch von Philipp Seefeldt, der mit seinen Perspektivspielen und einem karikierenden Strich verblüfft. „Reiner der Weiner“ hat ein seltsames Talent: Er kann einen ganzen See aus Tränen zusammenweinen. Eine nützliche Gabe, denn Reiner setzt sein Klassenzimmer unter Wasser, um den armen Goldfisch aus seinem Glas zu befreien, er löscht ein Feuer und rettet einen Weinberg vor dem Vertrocknen. Und er achtet darauf, dass er immer pünktlich zur Schule kommt. Reiner ein Feiner, könnte man auch dichten. Mit seinem Tränenstrom einfach mal Ärger zu machen, kommt ihm nicht in den Sinn.

Und noch eine andere interessante Entwicklung auf dem Markt für Kinderbücher: „Der bunte Hund“, in den Achtzigern als Literaturmagazin für Kinder entwickelt, ist seit diesem Monat in neuer Gestaltung, erweitertem Umfang und mit prominenteren Autoren auf dem Markt. Eine gute Mischung – mal sehen, ob der Beltz Verlag sich damit einen Platz neben Geolino erobern kann. ANGELIKA OHLAND

Sibylle Rieckhoff, Sophie Schmid: „Probier’s mal mit Entschuldigung“. Arena Verlag, Würzburg 2007, 12,95 Euro; Philipp Seefeldt: „Reiner der Weiner“. Tulipan Verlag, Berlin 2007, 32 Seiten, 12,90 Euro; Martin Baltscheid: „Was ist eigentlich ein Tulipan?“ Tulipan Verlag, Berlin 2007, 81 Seiten, 10 Euro; „Der bunte Hund“. Das Geschichten- und Bildermagazin. Beltz Verlag, Weinheim; am Kiosk 4,90 Euro, zehn Hefte im Jahresabo 45 Euro