LEUCHTEN DER MENSCHHEIT CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK: Über die Logistik der Flucht
Da soll noch mal jemand sagen, die Kanzlerin sei stets bedächtig. Klar, von allen Seiten unter Druck gesetzt, sich zu einem möglichen Einwanderungsgesetz zu äußern, bat sich Angela Merkel am Dienstag Bedenkzeit aus: „Ich muss mir dazu erst ein Urteil bilden.“
Aus dem Stegreif hatte sie hingegen folgende Überzeugung parat: „Das, was drängender im Augenblick ist, ist die Frage der sehr vielen Flüchtlinge, die wir haben.“ Bam, das saß. Ein bisschen Populismus hier und da kostet ja nix.
Also hier noch mal die alte Leier: Deutschland erreichen immer noch weit weniger Menschen auf der Flucht als vor der Verschärfung des Asylrechts zu Beginn der 90er Jahre. Auch weil diejenigen, die versuchen, nach Europa zu kommen, ganz schön tief in die Tasche greifen müssen. Die Preise der Schleuser haben ordentlich angezogen seit dem Arabischen Frühling und dem Krieg in Syrien.
Das ist dem Buch „Bekenntnisse eines Menschenhändlers – Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen“ (Kunstmann, 2015) zu entnehmen, für das die italienischen Reporter Andrea Di Nicola und Giampaolo Musumeci rund um das Mittelmeer gereist sind, um sich einen Eindruck von den Fluchtrouten zu verschaffen und Menschen zu interviewen, die sich professionell mit dem Transport von Flüchtlingen beschäftigen.
Eine Passage von der Türkei nach Italien kostete 2014 demnach 2.500 bis 5.000 Dollar, während der Tarif für eine „Reise“ aus dem Irak nach Deutschland sich auf mindestens 7.000 und höchstens 14.000 Dollar beläuft. Es geht noch teurer, beispielsweise, wenn man von Afghanistan nach Großbritannien möchte: 25.000 Dollar. Die maximal 3.000 Dollar für eine Überfahrt von Nordafrika nach Lampedusa nehmen sich da wie ein Schnäppchen aus.
Der Tonfall des Buchs dürfte nicht allen gefallen. Da ist von „kriminellen Herrschaften“ die Rede, und es werden bisweilen reißerisch deren Profitgier und Gewalttätigkeit gegeißelt. Die Autoren sind sich sicher, dass es sich beim Schleusen grundsätzlich um „organisiertes Verbrechen“ handelt.
Die schildernden Passagen ihrer Reportage überschreiten mehr als einmal die Grenze zur puren Literatur: „Istanbul, das Viertel Beyazit. Ein Türke kurdischer Herkunft, er mag um die fünfzig sein, verlässt mit einem ledernen Aktenkoffer in der Hand ein heruntergekommenes Hotel. Es ist Ende Juni, ein brütend heißer Tag vor wenigen Jahren.“ Wann? Jedenfalls geht er „entschlossenen Schrittes“. So manches wirkt auf jeden Fall nicht zweifach überprüft.
Und doch steckt in dem Buch sichtlich investigative Mühe, das Geschäft mit der Flucht zu durchleuchten. Das hilft bei der Urteilsbildung. Eignet sich allerdings nicht für Leute mit der Überzeugung, es handele sich bei den in der Logistik der Flucht tätigen Menschen nur um Philanthropen.
■ Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Hamburg
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