Blut atmen, Gas atmen, Musik

ORTSTERMIN Ob auf dem Tahrir-Platz, in der Innenstadt, an der Universität – die Revolte ist überall in Ägyptens Hauptstadt. Daneben essen die Menschen Eis und gehen in Bars

„Wie in Beirut. Die Leute sterben, aber die Stadt bleibt bekannt für ihr Nachtleben“

LAMMA, STUDENTIN

AUS KAIRO NORA MBAGATHI

„Ich hatte Angst, zu ersticken. Alles was ich einatmen konnte, war das Blut der Verletzten, die auf mir lagen.“ Mariam und ich stehen in der Schlange vor dem Salatbuffet der AUC, der Amerikanischen Universität in Kairo. Andere Leute drehen sich nicht einmal um, als Mariam erzählt. Dass sie vor zwei Tagen von Staatsdienern zusammengeschlagen wurde, ist für die meisten kein Grund zu protestieren – oder gar eine Vorlesung zu verpassen.

Mariam hat schon im Januar für Demokratie gekämpft. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo, damals wohlwollend begleitet von Medien aus aller Welt. Mubarak trat als Präsident zurück, aber demokratische Verhältnisse herrschen in Ägypten bis heute nicht. Deshalb ist Mariam wieder auf dem Tahrir. Sie hat dafür einen hohen Preis gezahlt.

Sie will ins Krankenhaus gehen, um sich untersuchen zu lassen. Vorher aber muss sie noch Anrufe entgegennehmen, viele Anrufe. „Nein, es tut mir leid. Mein Vater hat sein Handy ausgeschaltet.“ Emad Abu Ghazi, der Vater von Mariam, ist als Kulturminister zurückgetreten – wenige Stunden, nachdem Mariam es geschafft hat, den Knüppeln zu entkommen. Und viele Stunden, bevor sich seine Kabinettskollegen zu demselben Schritt entschlossen haben.

Aber diese Entscheidung habe nichts mit ihren eigenen Erlebnissen zu tun, versichert die 21-jährige Studentin. Und: „Ja, ich bin verletzt, aber ich werde weiterhin zum Tahrir gehen.“ Solange sie keine Vorlesung hat.

Die Prioritäten scheinen seltsam. Aber sie zeigen nur: Es gibt einen Alltag – auch in Zeiten der Revolution. „Freut mich ja, dass sie Spaß haben“, bemerkt Aschraf wenig später am Abend, als wir auf dem Weg zum Tahrir an einer Bar vorbeikommen, aus der laut Musik schallt. „Tja“, seufzt Lamma, „wir werden wohl enden wie in Beirut. Die Leute sterben, aber die Stadt bleibt bekannt für ihr Nachtleben.“

Über dem umkämpften Tahrir hängt der Geruch von Tränengas. Nachrichtenagenturen schreiben, das Gas sei giftig. Lammas Mutter ist nicht die Einzige, die nach einem kurzen Aufenthalt auf dem Tahrir stundenlang erbricht und sich kaum noch bewegen kann.

Sogar in Downtown, unweit des Tahrir, gehen Leute zur Arbeit, sie kaufen ein oder sie essen Eis. Wie überall sonst in der Stadt. Umso überraschender ist es, als eine Probe für die Theaterproduktion der Uni am Dienstag plötzlich vom Regisseur unterbrochen wird. „Die Universität wird evakuiert, nehmt alle den nächsten Bus.“ Begründet wird die Maßnahme von der Verwaltung mit „drohendem Verkehrschaos“. Alle lachen. Schließlich ist Verkehrschaos hier in Kairo die Regel, nicht die Ausnahme.

Einige macht diese Ankündigung allerdings gerade deshalb nervös: „Geht nach Hause, die glauben offenbar, dass irgendwas passiert.“ Als ob jemand derzeit tatsächlich wissen könnte, was passieren wird.

Zwei Tage und viele Tote später ist an der AUC immer noch nichts passiert, doch die Uni sagt alle offiziellen Veranstaltungen ab. Einige meiner Kommilitonen sind genervt und schimpfen auf die Demonstranten. „Müssen die eigentlich jedes Mal, wenn es ein bisschen Stabilität gibt, wieder Stress machen?“

„Nein Mutter, wirklich nicht!“ Ich weiche einem jungen Mann aus, der wütend in sein Handy schreit. „Ich bin nicht auf dem Tahrir-Platz!“ Er lügt. „Ägypten – das einzige Land, in dem die Leute keine Angst vor dem Tod haben, aber Angst vor ihren Eltern“, sagt ein CNN-Korrespondent. „Weißt du“, meint Aschraf nachdenklich, „das sind die wirklichen Helden hier. Die es nicht unbedingt erzählen wollen.“

Aschrafs bester Freund hat vor zwei Tagen sein Stipendium in den USA aufgegeben und ist zurück nach Kairo gezogen. Jetzt steht er an der Mohammed-Mahmud-Straße, die zum Tahrir-Platz führt. Polizei und Demonstranten liefern sich gerade einen erbitterten Kampf. Genau an derselben Stelle wurde mein Exfreund in den letzten Tagen zweimal angeschossen.

Die Ärzte auf dem Platz sagten, eine seiner Fleischwunden sei durch scharfe Munition verursacht worden. Heute steht er wieder auf dem Platz. Ich kann die depressiv-aggresive Stimmung nicht lange ertragen und bitte Aschraf, mich nach Hause zu bringen. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem offenen McDonald’s vorbei. Vielleicht schaue ich noch einen Film an, bevor ich schlafen gehe. In meiner Wohnung ist vom Krieg nichts zu spüren. Aber er ist da.