Immer noch Kapitalismus

AUFSTAND Ist schon Ausnahmezustand? Niels Boeing macht eine Inventur der Gegenwart

Manches möchte man der Occupy-Bewegung ins Poesiealbum schreiben

VON CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Mit Flugschriften ist es genau andersherum als mit den Blättern, die man üblicherweise auf Demos bekommt. Sie müssen nicht umgedreht werden, um zu sehen, wer den Text verzapft hat. Das steht vorne drauf. Gewendet werden müssen sie, damit man sieht, worum es geht. So ist es auch mit „Alles auf Null“ aus der Flugschriftenreihe des Nautilus Verlags.

„Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit“, den Untertitel findet, wer den schmalen Band in die Finger bekommt, auf der Rückseite. Und ein Zitat: „Die Uhr tickt. Oder ist es eine Bombe in der Gegenwart? Draußen verändert sich etwas, und es fühlt sich nicht gut an.“ Niels Boeing kennen Hamburger Recht-auf-Stadt-Aktivisten, seit er ihrem Netzwerk beigetreten ist und auf einem für Großprojekte infrage stehenden Supermarktgelände im Caroviertel eine „Wunschproduktion“ der Anwohnerinnen gestartet hat. Das Buch des Journalisten entstand allerdings vorher und hat wenig mit einer Handreichung für Gentrifizierungsgegner gemein.

In 99 Gedankengängen, jeweils auf einer Buchseite ausgebreitet und stilistisch eine mutige Mischung aus Tagebuch, Popliteratur, Blog und Pamphlet, stellt der 44-Jährige Vorüberlegungen zu kommenden Aufständen an. Denn, so schreibt er lapidar, die „Aussicht, mit 90 zu sterben, und es ist immer noch Kapitalismus, empfinde ich als ausgesprochen ärgerlich“.

Eine „Inventur“ künden die ersten Einträge an. Der Gestus des Texts entspricht über weite Strecken allerdings eher dem der Illustrationen, die Park-Fiction-Mitbegründer Christoph Schäfer beigesteuert hat: Dort sieht man Stöckchen, kleine Schrauben, Bindfäden und Grasbüschel- oder perückenartige Puschel, die immer wieder neu zusammengestellt und verbunden werden, wie probehalber.

Weil das Verfahren eher induktiv als deduktiv ist, stehen die Merksätze nicht als Überschriften über dem Text, sondern gefettet darunter. Etwa „Geld ist geronnene Freiheit – sauer.“ oder „Wir schaffen alle Gesellschaftsmaschinen ab.“ Die Lektüre gleicht einem leicht melancholischen Plausch am Tresen, vor einem steht auf jeden Fall Kräftigeres als Bier oder Sekt auf Eis. Die Themen reichen von den Vorzügen des Stadtlebens und den Qualen deregulierten Laptoparbeitens über den deutschen Sonntag mit Klößen bis zu Kunst und Befreiung.

Manches möchte man der Occupy-Bewegung ins Poesiealbum schreiben: „Die Gier der anderen anzuprangern ist ein Leichtes? Daneben verschwand die kleine Gier der kleinbürgerlichen Schnäppchenjagd, das war doch gar nichts, verglichen mit den Schweinemillionen.“ Anderes adressiert Boeing selbst: „Die neuen Wissensarbeiter strecken dem alten Bürgertum die Zunge raus, nennen sich digitale Boheme und glauben allen Ernstes, sie seien eine kreative Klasse, die den Laden übernehmen wird.“

„Wer liest heute noch E-Mails, in denen ein Gedankengang entfaltet wird?“ Solcherlei Kulturpessimistisches findet sich bei Boeing direkt neben Fortschrittsemphase, Gramsci neben Buddhismus und Rave neben Rucksacktourismus. „Alles auf Null“ lesen ist ein bisschen so, als blicke man den disparaten Bewegungsgruppen von heute in die Köpfe und Diskussionsprotokolle. Dogmatismus ist da zuverlässig verpönt.

■ Niels Boeing: „Alles auf Null. Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit“. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 128 Seiten, 12 Euro