Zum Glück gibt es Anstalten

IRRE Wütend in Italien: Ascanio Celestinis Roman „Schwarzes Schaf“

Supermarkt und Irrenhaus – in Ascanio Celestinis schmalem Roman „Schwarzes Schaf“ scheinen das zwei Seiten derselben Medaille zu sein: Beide sind Insignien einer Zeit, die die Unordnung im Gehirn durch die Ordnung der Anstalt beziehungsweise der Konsumwelt kurieren will. Celestinis Antiheld heißt Nicola, ein gespaltener Charakter. Er lebt seit über dreißig Jahren in einer Klinik, seine Tätigkeiten beschränken sich auf Einkäufe im Supermarkt, und in einem aus ihm herausbrechenden, irren Monolog erzählt er, dabei sich als einen anderen beschreibend, über sein Leben.

Nicola wird in die sechziger Jahre hineingeboren, und diese sechziger Jahre werden in dieser vorbewussten Erinnerung als gesegnete Zeit gepriesen: Mantrahaft beschwört der Erzähler sie in seinem Wahn immer wieder herauf – alles schien damals möglich. Mondreisen und freie Sexualität, Reichtum und Zukunftseuphorie schießen in diesem magischen Jahrzehnt zusammen. Und mit jedem Satz, der aus Nicola heraussprudelt, erweist sich dieser Glaube an ein goldenes Zeitalter als Schimäre.

Nicola wird zunächst von der stets Eier schlürfenden Großmutter auf die Schule geschickt, aber allzu weit bringt er es dort nicht. Seine Mutter behandelt man mit Elektroschocks. Die Brüder vergnügen sich mit einer Prostituierten. Seine Jugendliebe vergrault Nicola auf eindrückliche Weise, indem er Spinnen verspeist und ihr absurde Vorhaltungen macht. Und irgendwann landet er selbst in der Klinik, die ihm zum unwirtlichen Zuhause wird. In jeder Familie gibt es ein schwarzes Schaf, einen faulen Apfel, heißt es einmal. Zum Glück gebe es Anstalten.

Der 1972 in Rom geborene Autor Ascanio Celestini ist in Italien ein bekannter linker Agitprop-Künstler, Dramatiker und Schauspieler, Regisseur und Rezitator. Er kommt von der Bühne. Und man merkt das diesem furiosen, fäkalfixierten, nur auf den ersten Blick formlos erscheinenden Monolog an. Man muss sich diesen Text als lange, wütende Rede vorstellen, die tief eingebunden ist in die Tradition engagierter, psychiatriekritischer Literatur: Die Verstörung des Einzelnen ist Ausdruck der gesellschaftlichen Deformationen.

Nach Referenzrahmen muss man im Gegenwarts-Italien ja nicht lange suchen. „Schwarzes Schaf“ ist nicht nur, wie der Untertitel besagt, ein „Nachruf auf die elektrische Irrenanstalt“, auf die gefängnisartigen Kliniken, die in Italien berüchtigt waren und erst seit 1978 reformiert wurden. Das Buch wurde auch als Psychogramm eines Landes gelesen, das allzu lange von einem mafiösen Sexmaniac regiert wurde und im Konsumismus seine Probleme zu ersticken versucht – Italien als Irrenhaus und Supermarkt.

Celestini beweist, dass engagierte Literatur dann funktioniert, wenn der Autor über eine raue, poetische Sprache verfügt, die das Leben in manchen Sätzen auf den Punkt zu bringen vermag: „Aber seit fünfunddreißig Jahren nehme ich jetzt Marsmenschenpillen, um diese Angst zu heilen. Und trotzdem kommt die Angst immer wieder zu mir zurück, jeden Abend. Ich behandle mich und bleibe immer krank. Aber jetzt habe ich kapiert, warum ich nie gesund werde. Weil die Angst gar keine Krankheit ist.“ ULRICH RÜDENAUER

Ascanio Celestini: „Schwarzes Schaf“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach, Berlin 2011, 123 Seiten, 15,90 Euro