Im Exil der vielen Krebse

LOST Laura Restrepo erzählt von Menschen, die aus sinnlosem Pflichtgefühl im Pazifik stranden: „Die Insel der Verlorenen“

Aussichtsloser Kampf für eine Heimat, die nicht mehr die ihre war

VON ANDREA KADEN

Viele SchriftstellerInnen neigen dazu, sich eine neue Heimat und deren Geschichte anzueignen, indem sie darüber schreiben. Auch die Kolumbianerin Laura Restrepo verarbeitet eine kleine historische Begebenheit in ihrer Exilheimat Mexiko zu Literatur, in das sie in den achtziger Jahren wegen einer regierungskritischen politischen Publikation emigrieren musste.

Wie in vielen Büchern dieser Autorin folgt auch in „Insel der Verlorenen“ die Erzählweise keiner eindimensionalen Chronologie. Ihr Alter Ego im Roman ist eine Journalistin, die 1988 den Ereignissen auf einer winzigen, entlegenen Pazifikinsel am Anfang des 20. Jahrhunderts nachspürt. Ebenso bruchstückhaft, wie sich dieser Erzählerin die ganze Geschichte der Bewohner Clippertons erschließt, wird manch tragisches Ereignis vorweggenommen und später aus einem anderen Blickwinkel erneut aufgegriffen. Die Erzählerin serviert amüsante historische Zeugnisse und politische Gerüchte, die Einblicke in die damaligen Geschehnisse gewähren. Abwechselnd kommen Zeitzeugen, historische Dokumente und andere mit der Insel Clipperton befasste Schriftsteller zu Wort.

Kombiniert mit den Szenen des rauen Insellebens und gespickt mit Widersprüchen, die schöne Beispiele für die Relativität von Wahrnehmung und Gedächtnis abgeben, entfaltet sich multiperspektivisch das abenteuerliche Schicksal von knapp 40 Menschen, die von 1908 an neun Jahre lang auf jenem unwirtlichen Atoll tausend Kilometer von der mexikanischen Küste entfernt leben und sterben. Mit dem unglücklich gestrandeten Robinson Crusoe haben Restrepos Protagonisten aber wenig gemein: Sie siedelten freiwillig und in militärisch-patriotischem Pflichtbewusstsein über ins Nirgendwo des Ozeans. „Rund dreißig halb nackte Menschen, ein riesiges Krabbengewimmel, einen Haufen Vogelscheiße und einen Felsbrocken“ soll der Gouverneur der Garnison, Ramón Arnaud, im Auftrag des Präsidenten Porfirio Díaz gegen die vermeintlichen Eroberungsversuche der Franzosen verteidigen. Doch statt der Franzosen kommen zerstörerische Tsunamis, greifen Haie an und raffen Unterernährung und Skorbut Arnauds Gefolgschaft dahin. Porfirio Díaz weilt längst im Exil, die mexikanische Revolution ist in vollem Gange, und zu ihr gesellt sich schon bald ein Weltkrieg. Kaum ein Wunder, dass Clipperton und seine Bewohner in absolute Vergessenheit geraten. Erst 1917 werden die letzten überlebenden vier Frauen und sieben Kinder zufällig von einem US-amerikanischen Kriegsschiff gerettet.

Besonders tragisch an der ganzen Geschichte: Der Gouverneur Arnaud hatte sehr wohl Gelegenheit, sich und die Seinen vor dem sicheren Tod auf der Insel zu retten – doch er tat es nicht. Und zwar deshalb nicht, weil der ehemalige Deserteur Tapferkeit und die unbedingte Erfüllung seiner Pflichten geschworen hat und darüber hinaus auch, weil die vom Bürgerkrieg erschütterte Heimat sowieso nicht mehr das Zuhause ist, zu dem er Zuflucht nehmen könnte. Seine Geschichte lässt sich deshalb auch als Gleichnis auf die Situation der unzähligen Gegner der lateinamerikanischen Diktaturen lesen, die – damals in den Achtzigern ins Exil verbannt – einen aussichtslosen Kampf fochten für eine Heimat, die längst nicht mehr die ihre war.

Laura Restrepo, die in Deutschland vor allem durch ihren mit dem Alfaguara-Literaturpreis ausgezeichneten Roman „Land der Geister“ bekannt geworden ist, bedient sich einer wenig zimperlichen Sprache. Stattdessen bringt sie die häufig brutalen Ereignisse mit einer manchmal groben, jedoch immer auch empathischen Direktheit zum Ausdruck. Mit feinem Gespür und tragikomischem Ton geht sie menschlichen Stärken und Schwächen nach und bietet mit ihrem historischen Abenteuerroman ganz nebenbei auch eine mitreißenden Lektüre.

Laura Restrepo: „Die Insel der Verlorenen“. Aus dem Spanischen Elisabeth Müller. Luchterhand, München 2011, 384 S., 19,99 Euro