Wir sollten mal rausfahren

JUNTA Wir sind die Faschos von morgen: Jochen Schimmangs „Neue Mitte“ ist ein satirischer Wenderoman aus der Zukunft

Ein Kosmos, der dem Kältetod kleinbürgerlicher Biederkeit zustrebt

VON ULRICH GUTMAIR

Dieser Roman ist eine Hommage an die so mythische wie prägende Zeit unmittelbar nach dem Fall der Mauer: als die Geschichte einen Moment lang Pause zu machen schien, der Staat von Dissidenten und Künstlern gelenkt wurde, als alle machten, was sie wollten. Das gilt nicht nur für die Bohemiens in den Bars und Clubs ohne Schanklizenz in Berlin-Mitte, von denen das City Marketing noch heute zehrt. „Da niemand genau wusste, wer eigentlich das Land regierte, musste plötzlich jeder sein Leben selbst führen.“

Doch Jochen Schimmangs „Neue Mitte“ ist gar kein historischer – das ist die erste Überraschung, die das Buch dem Leser beschert –, sondern ein postmoderner Zukunftsroman. Ein Buch voller grandioser Einfälle, obskurer Zitate und ironischer Querverweise auf andere Bücher, Popsongs, reale und fiktionale Ereignisse. Die Clubs in Schimmangs neuer Mitte etwa heißen Goetz und Airen. Es gibt ein Computerprogramm mit dem Namen Dath 20.0.

Wir schreiben das Jahr 2030. Eine Militärjunta hat nach dem Putsch von 2016 bis ins Jahr 2025 das Land beherrscht. Nun regiert die Internationale Kommission, demnächst finden freie Wahlen statt. Wo sich einst Ministerien, Bunker, die Geheimdienstzentrale und ein Gefängnis befanden, wohnen und arbeiten nun Leute, die bis vor Kurzem noch gegen das Regime kämpften. Die Anarchisten sind da, der alte Unternehmensberater Ritz, der zum Gärtner geworden ist, aber auch die brillanten jungen Leute von der Softwareklitsche Alice in Wonderland. In der Superdicken Wirtin sind die Bewohner des Geländes am Abend unter sich.

Draußen aber sammelt der General in den U-Bahnhöfen seine Getreuen, um die Macht zurückzuerobern, so gehen die Gerüchte. Die „Partei nationale Moderne“ hat sich bloß umbenannt. Sie heißt jetzt „Alte Werte“.

Die Welt, die Schimmang mit knappen Strichen recht plastisch beschreibt, ist das Ergebnis einer raffinierten Überblendung der Nachkriegsjahre, 1945 ff., und der unmittelbaren Nachwendezeit der frühen Neunziger. Der Leser ist aufgefordert, den mal deutlichen, mal verschlüsselten Hinweisen Schimmangs zu folgen und sich seinen eigenen Reim zu machen, auf welches Regime der Autor überhaupt anspielt.

Da gibt es neben der Carl-Schmitt-Figur des geschmeidigen Staatsrechtlers Oliver Fromberg einen an Goebbels erinnernden Chefideologen. Von einer ominösen Ideologie des Doppelblitzes ist auch die Rede. Das Regime der alten Männer in Ostberlin scheint Schimmang historisch dagegen für so irrelevant zu halten, dass er nirgends auf dessen spezifische Ideologie und Herrschaftsform verweist: Wäre Jochen Schimmang eine mobile Beratungsstelle gegen rechts, würde Kristina Schröder auf Unterzeichnung der Extremismus-Klausel pochen.

Ihre Jugend fasst die Junta in den ziemlich zeitgenössisch klingenden Jugendorganisationen Game Boys und Twilight Girls zusammen, was deutlich macht, dass es Schimmang auch um die weiterhin und jederzeit bestehende Möglichkeit faschistischer Versteinerung geht. „Liberal sein wollen, aber es nicht können; modern und innovativ sein, aber unter strenger Kontrolle; weltoffen sein wollen, aber nicht mehr mithalten können“, so charakterisiert die Historikerin Ute Wellkamp das Regime. Ihr Spezialgebiet: „Formen autoritärer Herrschaft unter den Bedingungen von Globalisierung und Modernisierungsschüben“. „Neue Mitte“ ist also, wie jede literarische Utopie, eine Satire auf die Gegenwart, ohne auch nur einen Hauch von Bemühtheit zu verströmen. Der Spaß, den man beim Lesen an diesem Gespinst von Verweisen und Ideen hat, entschädigt für den Umstand, dass der ohnehin recht simple Plot am Ende mit einer harmlosen Wendung aufgelöst wird.

Schimmangs Figuren erzählen uns zurückgelehnt von der Berliner Republik. Sie erscheint als Kosmos, der in einem glücklichen Moment aus einem bunten Urknall entstanden ist, um dann dem Kältetod kleinbürgerlicher Biederkeit zuzustreben. Der Protagonist des Buchs lässt sich von einem alten Kommunisten die Leviten lesen: „Alle hätten ihren Frieden gemacht und glaubten, sie hätten genug getan, glaubten, sie dürften nun auf ihrer Insel glücklich werden, mit ihren schicken kleinen Firmen und ihren schicken kleinen Wohnungen. Dabei habe sich draußen, in der richtigen Welt, nichts geändert. Wir sollten ab und zu mal rausfahren und nachgucken.“

Jochen Schimmang: „Neue Mitte“. Edition Nautilus, Hamburg 2011, 256 Seiten, 19,90 Euro