: Riechen, sehen, schmecken
NATUR Pflanzen haben viel mehr Sinne als Menschen. Stefano Mancuso und Alessandra Viola zeigen, dass sie sogar Strategien entwickeln können
VON ANNETTE JENSEN
Ohne Zweifel: Stefano Mancuso ist ein Liebender. Der Botanikprofessor aus Florenz hat zusammen mit der Journalistin Alessandra Viola ein ebenso kundiges wie unterhaltsames Buch geschrieben: „Die Intelligenz der Pflanzen“. Auf der Reise quer durch die Botanik erfährt die Leserin nicht nur viele erstaunliche Details über unsere immobilen Mitlebewesen, die mehr als 99,5 Prozent der Biomasse auf der Erde stellen. Auch die bereits im Titel formulierte These wird überzeugend belegt.
Zwar haben Pflanzen weder Nase, Auge noch Mund. Doch sie können trotzdem riechen, sehen, schmecken und kommunizieren. Eine Tomate, die von Pflanzenschädlingen angegriffen wird, entwickelt nicht nur einen chemischen Abwehrcocktail, sondern ist auch in der Lage, ihre Artgenossen in Hunderten von Metern Entfernung zu warnen. Dass solcherlei Fähigkeiten dezentral im gesamten Organismus verteilt sind, macht Sinn bei Wesen, die nicht fliehen können. Selbst wenn eine Pflanze zum Großteil gefressen oder sie von Menschen in mehrere Teile geteilt wird, bleibt sie aufgrund ihres modularen Aufbaus oft voll funktions- und regenerationsfähig. Die Autoren beschreiben sie deshalb eher als Kolonie denn als Individuum und vergleichen ihren internen Informationsfluss mit dem des Internets. Sie haben zwar weder Hirn noch Nerven, doch durch hydraulische und chemische Signale sind Blätter, Blüten, Äste, Stängel und Wurzeln untereinander verbunden.
Dass Mimosen lernfähig sind, hatten Forscher schon im 19. Jahrhundert entdeckt. Während ihre Blätter bei Erschütterungen normalerweise zusammenklappen, gewöhnten sie sich bei einer Kutschfahrt über Kopfsteinpflaster daran und realisierten offenbar, dass keine Gefahr drohte. Pflanzen verfügen über weitaus mehr Sinne als Tiere und Menschen. So sind sie beispielsweise in der Lage, auch geringste Mengen Wasser oder Nährstoffe in der Erde aufzuspüren. Giften weichen ihre Wurzeln möglichst weiträumig aus.
Und sie können nahe Verwandte erkennen: Unter Geschwisterpflanzen gibt es viel weniger Gerangel um den unterirdischen Platz als mit anderen Artgenossen. Bei widersprüchlichen Anforderungen – etwa Schutz vor Austrocknung und Photosynthesebedarf – können Pflanzen sinnvolle Kompromisse entwickeln.
Wie das alles genau abläuft, ist in vielen Fällen noch unerforscht. Klar ist jedoch, dass die Pflanzenwelt ein schier endloses Repertoire an Düften erzeugt, das der Kommunikation dient. Die Limabohne beispielsweise sondert eine flüchtige chemische Substanz ab, sobald sie von einer gefräßigen, vegetarischen Milbe angegriffen wird. Die lockt sogleich eine fleischfressende Milbe an, die das Problem für die Pflanze löst. Besonders erfindungsreich sind Pflanzen, wenn es darum geht, Insekten und andere Tiere für ihre Vermehrung in Dienst zu stellen.
Am dreistesten verhalten sich Orchideen. Sie ahmen durch Form, Farbe, Duft und eine flauschige Oberfläche Königinbienen nach und verführen so die Drohnen zur vermeintlichen Paarung. Dabei verklebt ein Schleudermechanismus deren Kopf mit Pollenmassen, und so fällt die männliche Biene auch bei der nächsten Orchideenblüte auf den Schwindel rein – und sorgt so für pflanzlichen Nachwuchs.
Was aber ist Intelligenz? Die Autoren schlagen als Antwort vor: die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Diese Kompetenz spricht die Forschung vielen Tieren inzwischen nicht mehr völlig ab – anders als Pflanzen. So wird bei der Kooperation von Ameisen und Pflanzen zum beiderseitigen Nutzen allein den Tieren so etwas wie strategisches Handeln zugebilligt – während die Pflanzen in unserer Kultur seit Jahrtausenden als passiv erscheinen: Noah hatte keine einzige Pflanze mit ins Boot genommen und Aristoteles die Flora in die Nähe der anorganischen Welt gerückt. „Fragen wir uns doch einmal, was passieren würde, wenn wir eines schönen Tages außerirdischer Intelligenz begegnen“, schlagen Mancuso und Viola vor. Die Menschheit wäre wohl kaum in der Lage, sie zu erkennen.
■ Stefano Mancuso/Alessandra Viola: „Die Intelligenz der Pflanzen“. Kunstmann Verlag, München 2015, 172 S., 19,95 Euro
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