Wahr wie die „Bild“-Zeitung

OPERNPREMIERE Wir wollen die „Habanera“ hören – Sebastian Baumgarten hat an der Komischen Oper Georges Bizets „Carmen“ neu inszeniert, und endlich versteht man, warum dieses Stück so oft gespielt wird

Es ist – was sonst? – die Sehnsucht danach, dass dieses armselige Leben, ohne Liebe, ohne Geld, dennoch schön ist

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Vermutlich hat noch niemand Karten für eine Aufführung der „Carmen“ gekauft, um Neues zu lernen über die Liebe, die Frauen, die Männer oder den Sinn des Lebens. Wir wollen die „Habanera“ hören und den Einzug der Toreros, weil wir das alles so genau kennen wie die Zigeunerin, in Öl gemalt, mit der Blume im Dekolleté. Bei Sebastian Baumgarten ist das anders, bei ihm gibt es etwas Neues zu lernen. Zwar auch nicht über die Liebe, die Frauen, die Männer und den Sinn des Lebens, wohl aber darüber, was für ein Stück diese Carmen ist, die wir alle so gut kennen.

Es ist eine Operette. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Operetten sind nicht komisch, sie sind radikal destruktiv, weil sie den Glauben an all das zerstören, woran wir uns im Alltag halten, vor allem die Liebe, die Frauen und so weiter. Alles daran ist falsch, wenn es zur Operette wird, so falsch wie eine Skandalgeschichte aus der Bild-Zeitung, an die wir zwar glauben, aber wissen, dass es nicht die reine Wahrheit über die Liebe und so weiter ist. Es macht gerade deswegen Spaß, das zu lesen, so wie es Spaß macht, Baumgartens „Carmen“ zu sehen. Sie ist eine Art Bild-Zeitung auf der Bühne.

Das Viertel des globalen Prekariats

Nun muss man die Bild-Zeitung nicht mögen. Bewundern aber muss man selbst dann die Virtuosität, mit der Baumgarten die falsche Wahrheit und wahre Falschheit der Operette und des Boulevards auf die Bühne bringt. Großen Anteil daran haben Thilo Reuther für die Kulissen und Jan Speckenbach für die Videos, die auf ebendiese Kulissen projiziert werden. Sie verdichten sich zum Bild eines heruntergekommenen Stadtviertels des globalen Prekariats, das paradoxerweise zugleich dokumentarisch wie surreal ist. Kleine Ganoven und Nutten haben darin ebenso Platz wie Gliederpuppen, die Mutter Gottes von Lourdes oder die Zigeunerin in Unterwäsche, das Gesicht zur Totenmaske geschminkt, die nun tatsächlich die „Habanera“ singt.

Sensation in der Komischen Oper: Stella Doufexis singt das französische Original, nur der Chor wiederholt den Refrain in Deutsch, wie es in diesem Hause heilige Vorschrift ist. Aber auch das gehört zum Baumgart’schen Spiel der falschen Wahrheiten. Stella Doufexis, die einzige Primadonna der Behrensstraße, ist die Carmen des Klischees und ist sie zugleich nicht. Zum Ölgemälde fehlt ihr schlicht das Stimmvolumen – das macht sie wett mit einer wundervoll liedhaften Interpretation. So fügt sie sich nahtlos ein in diese Welt der Illusionen wie auch Timothy Richards, der auch kein Placido Domingo ist, dafür aber ein José, der mehr zu sagen hat als der sonst übliche Liebhaber mit Superstimme. Eine Videoeinspielung ruft Prosper Mérimées Originalfigur in Erinnerung: José ist ein Mörder auf der Flucht.

Er wird wieder morden aus Eifersucht, wie es in der Bild-Zeitung steht, aber auf Baumgartens Bühne ist das gar nicht mehr so klar. Denn die falschen wahren Klischees seiner Figuren sind durchsichtig. Timothy Richards darf nicht nur die Noten seiner Rolle singen, was er sehr schön kann, er muss auch aus der Rolle ausbrechen, in seine englische Muttersprache zurückfallen und erzählen, wer er wirklich ist. Es kommt zum Ehestreit mit der Carmen, die nun auch kein Fabelwesen mehr ist.

Normale Leute eben in der Videoinstallation des Bühnenbildes, das ein ganzes Kaleidoskop sich überlagernder Katastrophen von heute entfaltet, brennende Wohnhäuser, die halb abgerissene Filiale der Banco Santander, Schlägereien, Polizei, Demonstrationen: sehr wirkliche Spiegel gesellschaftlicher Zustände, zu denen die Träume wirklicher Menschen gehören. So ganz nebenbei lernt man damit auch noch, warum die Operette eine absolut aktuelle Kunstform ist. Kein Zufall, dass Sebastian Baumgarten letztes Jahr Ralph Benatzkys „Im weißen Rössl“ ebenso überzeugend in die mediale Gegenwart übersetzt hat wie nun Georges Bizets „Carmen“.

Ja doch, Bizet war wahrscheinlich der bessere Musiker als Benatzky. Unter dem jungen Bulgaren Yordan Kamdshalov entfaltet das Orchester eine Spielfreude, die das ganze Ensemble ansteckt. Aber es ist nicht diese Musik mit all ihren altbekannten Hits, die erklären kann, warum noch immer Millionen Karten kaufen, nur um „Carmen“ zu hören. Was sie dahin treibt, kann man bei Baumgarten verstehen. Es ist – was sonst? – die Sehnsucht danach, dass dieses armselige Leben, ohne Liebe, ohne Geld, dennoch schön ist, großartig wie der Marsch der Toreros, verführerisch, wenn auch tödlich, wie die Habanera. Ein Traum, der wahr ist, weil er falsch ist – und wenn man die Bild-Zeitung weglegt, könnte man auch sagen: weil es große Kunst ist. Oder noch einfacher: Operette.

■ Wieder in der Komischen Oper: 6., 12., 18. Dezember