WIR:HIER

Kapitel 19

Laura vermied auf dem Dachboden penibel, in die Ecke mit den Taubenmumien zu leuchten

Laura und Matteo verabredeten sich an der gleichen Bushaltestelle wie bei ihrer ersten Suche. Diesmal lugte aus dem Rucksack von Matteo das Ende einer Art Eisenstange.

„Was ist das?“

„Ein Kuhfuß. Kennste nicht?“

Während Laura den Kopf schüttelte, zog Matteo die Stange ganz raus. „Guck, ist eigentlich wie ein Brecheisen, aber an einem Ende verzweigt es sich, sodass es wie eine Klaue aussieht. Oder eben wie ein Kuhfuß. Damit kann man schwere Türen oder so aufhebeln. Ist Einbrecherwerkzeug. Wenn wir keinen anderen Zugang finden, probieren wir es noch mal an der Kellertür. In den Kellern wurden im Krieg Durchbrüche zu den Nachbarhäusern angelegt. Falls ein Haus von Bomben getroffen war, konnten die Verschütteten in das Nebenhaus flüchten und wer weiß, vielleicht finden wir da einen Weg.“

Er packte das Gerät wieder ein und sie liefen zu der großen Brache rüber.

„Hier war früher also die Post, und wo jetzt nur noch Schutt ist, standen Gebäude für die Techniker oder Fahrer. Hab ich aus einem der Bücher. Und die Karte von Marco, die hab ich mir auch noch mal angeguckt. Ich glaube, ich hab die jetzt verstanden. Sollen wir noch mal aufs Dach, dann kann ich das besser zeigen?“

Sie stiegen über die Bauschuttberge zum Hintereingang des leer stehenden Hauses. Die Tür stand noch einen Spalt offen, es sah aus, als ob seit ihrem letzten Besuch niemand hier gewesen war. Laura vermied auf dem Dachboden penibel, ihre Handytaschenlampe in die Ecke mit den Taubenmumien zu leuchten und stieg als Erste auf das Dach. Unter ihnen lag die Ruine des Bahnhofs und der Sportplatz, dahinter das Tempodrom mit seinem Zirkusdach, etwas weiter weg die Türme vom Potsdamer Platz. Sie standen einen Augenblick und genossen den Ausblick, dann zog Matteo Laura zur gegenüberliegenden Dachseite und zeigte auf die Mitte der verwilderten großen Fläche unter ihnen. „Siehste da, neben dieser Baumgruppe.“

„Seh ich nicht. Meinst du diese Büsche?“

„Ja genau. Und jetzt guck mal hier.“

Matteo holte den alten Plan heraus und rollte ihn auf der Dachpappe aus. Mit zwei Steinen beschwerte er das Papier. „Hier, das ist der Bunker, der steht ja immer noch.“ Er zeigte auf den dunklen quadratischen fensterlosen Bau neben der Bahnhofsruine.

„Und da ist die alte Post, die war riesig. Der Teil, der nicht abgerissen wurde, ist da unten auf der Ecke, das Hotel Windham. Und wo wir eben standen, waren natürlich die Gleise und der eigentliche Bahnhof. Auf dem Plan ist ein Querschnitt der Bahnröhren und Tunnel und hier,“ er zeigte auf eine schraffierte Linie, „das müssten Rohrpostdinger sein. Gehen von einem der Gleise bis hierhin zur ehemaligen Post.“ Er zeigte auf eine Stelle unter ihnen, wo jetzt nur noch Bauschutt lag.

„Ähm, Moment mal. Rohrpostdinger?“

„Früher hat man Briefe in Metallkartuschen gelegt und mit Luftdruck durch schmale Rohre von einem Ende der Stadt ans andere geschossen. Ging irre schnell, und war total modern. Die Rohre dafür sind ziemlich schmal im Durchmesser, aber hier, direkt daneben, ist eine breitere Röhre, ich schätze, die war ein Wartungstunnel, falls in dem Rohrpostdings was stecken bleibt oder so. Und dieser Wartungstunnel führt wiederum genau unter den Bahnhof. Das da,“ wieder zeigte er auf eine Stelle des Plans, „das ist ein Raum. Vermutlich irgendwas für Techniker. Kommst du noch mit?“

„Klaro.“

„Dieser Wartungstunnel, also wenn ich das richtig lese, endete genau da, wo jetzt die Büsche stehen. Jedenfalls war es 1942 so.“

Er nahm seinen Tabak aus der Jackentasche und begann sich eine Zigarette zu drehen.

Laura war beeindruckt. „Wow. Sag mal, du hast dich ja total reingefuchst in den Plan. Anfang der Woche noch gar nichts geblickt und jetzt: voll der Professor.“

Matteo konnte sich ein stolzes Grinsen nicht verkneifen. „Mich hat das geärgert, dass ich da nix geschnallt habe und die Bücher aus der Stabi, die waren auch ganz gut.“ Er reichte Laura die Zigarette, sie nahm einen Zug. Sie standen einen Augenblick still auf dem Dach und sahen auf die Stadt, bis Matteo seine Schultern straffte. „Wollen wir runter?“

Die Stelle, unter der Matteo einen Tunnelzugang vermutete, wiederzuerkennen, erwies sich als schwieriger als gedacht. Büsche wuchsen überall und sahen genau aus wie diejenigen, die sie von oben so deutlich erkennen konnten.

Matteo und Laura versuchten, sich zu orientieren. Hier war der Verlauf von ehemaligen Grundstücksmauern zu sehen, da könnte eine Zufahrt gewesen sein, dort war das frühere Hauptgebäude der Post, in dem heute das Hotel untergebracht ist, also mussten sie mehr nach links, nein, nicht so nahe an den Zaun, wieder zurück, weiter in die Mitte, an der Position, die sie suchten, standen doch eher Bäume als Büsche, und dann: Stießen sie auf eine in den Boden eingelassene rostige Metallklappe.

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de