Der Exodus der Kultur aus der Karl-Liebknecht-Straße

Das „Haus Ungarn“ an der Karl-Liebknecht-Straße hat eine nicht unwichtige Rolle für die Ost-Berliner Kunstszene gespielt. Demnächst wird es leerstehen. Eine Initiative will die Räumlichkeiten nutzen, um dem Alexanderplatz etwas von einstiger kultureller Strahlkraft zurückzugeben

Die WBM gilt als Pionierin der innovativen Zwischennutzungspolitik der Neunziger

Seit 1974 ist das ungarische Kulturinstitut im „Haus Ungarn in der Karl-Liebknecht-Straße 9 beheimatet. Doch Ende des Jahres wird das Collegium Hungaricum Berlin (CHB) an seinen historischen Standort in der Dorotheenstraße 12 in Berlin-Mitte zurückkehren. In einem von Schweger und Assoziierte in Anlehnung an die klassische Moderne entworfenen Neubau wird es sich dort in guter Gesellschaft vieler anderer Häuser der Kultur und Wissenschaft befinden.

Mit dem bevorstehenden Umzug setzt sich aber auch der kulturelle Exodus des Ostberliner Zentrums zwischen Alexanderplatz und Spree fort. Früher existierten in der langen Zeile mit 13-geschossigen Plattenbauten, die von der DDR zwischen Stadtbahn und Spandauer Straße entlang der Karl-Liebknecht-Straße errichtet wurde, zahlreiche kulturelle Einrichtungen und Geschäfte von stadtweiter Bedeutung. Heute gehören Nordsee, Schlecker, McDonalds und eine Gaststätte, die sich „Das total unmögliche Wirtshaus“ nennt, hier zu den prominentesten Mietern. Billiganbieter triumphieren mit greller Werbung und dröhnender Musik, haben aber – wie es scheint – nur wenig Kundschaft.

Mit dem Umzug des CHBs dürfte es noch ein wenig trostloser werden. Auch weil mit ihm das zum Haus dazugehörende Kino Balazs und das Café Geissler, das sich im ersten Stock des Haus Ungarn befindet, schließen. Letzteres zählt zu den wenigen Lichtblicken der mit gastronomischen Highlights nicht gerade üppig ausgestatteten Gegend. Die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), der das Gebäude gehört, hat noch keinen Nachmieter für die Räumlichkeiten gefunden, die insbesondere in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der DDR ein wichtiger Treffpunkt für Künstler und Andersdenkende waren.

Volker Geissler, der Betreiber des Kaffeehauses, das seinen Nachnamen trägt, hat gemeinsam mit dem eigens für den Erhalt des Haus Ungarns gegründeten Verein „Kulturforum Berlin-Alexanderplatz“ der WBM vorgeschlagen, die bestehende Infrastruktur des Hauses mit Ausstellungen, Konzerten, Parties, Filmvorführungen, Literaturabenden und Performances zu bespielen. Angestrebt wird eine Zwischennutzung des Gebäudes für einen Zeitraum von drei Jahren mit dem Ziel einer dauerhaften Etablierung des Hauses als Kulturstandort. In der vorgesehenen Zeit soll eine Vielzahl von Projekten realisiert werden, die sich auf den Ort und seine Geschichte, die Beziehungen Berlins zu Osteuropa sowie die Perspektiven der Kultur im öffentlichen Raum beziehen.

Renommierte und aufstrebende Kulturschaffende und Institutionen aus dem In- und Ausland sollen den seit den Siebzigerjahren nahezu unverändert gebliebenen Räumen des CHBs neues Leben einhauchen und sich der „am Alexanderplatz sichtbaren zentralen Fragen der Stadt Berlin als Metropole im 21. Jahrhundert“ annehmen. Geissler und seine Mitstreiter leugnen nicht, dass ihr Projekt nicht ohne finanzielle Unterstützung durch die WBM realisierbar ist. Für die Betriebskosten der circa 2.200 Quadratmeter großen Fläche des CHB wolle man aber vom ersten Tag an aufkommen, und dies, argumentiert Geissler, sei doch vernünftiger, als das Gebäude ungenutzt zu lassen oder an einen kommerziellen Nutzer zu vermieten, der Miete zahlt, aber dafür den Standort schwächt.

Die WBM hat inzwischen ernsthaftes Interesse an dem Projekt bekundet, sagt Christopher Uhe vom „Kulturforum Berlin-Alexanderplatz“. Dem KFBA sei die schwierige Lage eines marktwirtschaftlich organisierten Unternehmens wie der WBM ebenso bewusst wie die leeren Kassen des Senats: „Wir gehen nicht davon aus, unser Vorhaben komplett finanziert zu bekommen. Auch stellen wir keine Forderungen in dieser Richtung. Vielmehr begreifen wir unser Vorgehen – unabhängig von einem späteren Erfolg oder Misserfolg – als Teil eines dringend notwendigen Diskurses über die Privatisierung des öffentlichen Raums.“

Die WBM will sich zur Zukunft des Haus Ungarns zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern. Ihr scheint jedoch bewusst zu sein, dass im Umfeld des Alexanderplatzes einiges im Argen liegt. Ganz unschuldig ist sie daran nicht. Kritisiert wurde das Gewerbemanagement der WBM zuletzt vor wenigen Monaten, als bekannt wurde, dass sie ein Ladenlokal im wenige Meter vom Haus Ungarn entfernten Berlin-Carré an ein Modegeschäft vermietet hatte, das bei Anhängern der rechtsradikalen Szene hoch im Kurs stehende Bekleidung verkauft. In den nahe gelegenen Rathauspassagen, deren Umbau mit zur Finanzkrise des städtischen Unternehmens beigetragen hatte, schreckte die WBM nicht davor zurück, ein großes Autoersatzteilgeschäft anzusiedeln. Eine Nutzung also, die man eher in einem Gewerbegebiet, nicht aber in unmittelbarer Umgebung des städtischen Rathauses erwarten würde.

Andererseits gilt die WBM als Pionierin innovativer Zwischennutzungspolitik. Lange bevor Kulturschaffende als „Standortfaktor“ erkannt wurden, stellte die WBM ihnen leerstehende Gewerbeflächen günstig zur Verfügung und trug so wesentlich zur mittlerweile legendären Entfaltung der „jungen“ Berliner Kulturszene in Mitte in den Neunzigern bei. Ob die ökonomisch leidgeprüfte WBM an ihrer Politik der Zwischennutzung festhält, wird sich nicht zuletzt am Beispiel des Hauses Ungarn zeigen. JOHANNES NOVY