In Syrien geht das Licht aus

ZAHLEN & FAKTEN Die UN und Hilfsorganisationen veröffentlichen zum 4. Jahrestag des Syrienkonflikts haarsträubende Statistiken. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt, die Lebenserwartung sinkt drastisch

■ Kurz vor dem vierten Jahrestag des Aufstands in Syrien sind im Nordwesten des Landes bei Kämpfen zwischen Regimekräften und Rebellen mindestens 50 Menschen getötet worden. Die beiden Seiten hätten sich nordöstlich der Hafenstadt Latakia heftige Gefechte um den Ort Durien geliefert, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Donnerstag. Die oppositionelle Nachrichtenseite Zaman al-Wasl meldete, Rebellen hätten den Ort von der Armee zurückerobert. Demnach hatten Regimekräfte Durien vor einigen Tagen eingenommen. Latakia ist ein Zentrum der religiösen Minderheit der Alawiten, der auch Präsident Baschar al-Assad angehört. (dpa)

VON KARIM EL-GAWHARY

KAIRO taz | Zahlen sind trocken und lassen nicht hinter einzelne Schicksale blicken. Aber die Statistiken, die im März zum vierten Jahrestag des Syrienkonfliktes von der UN und von Hilfsorganisationen präsentiert wurden, drücken den syrischen Horror mathematisch aus.

Die wohl schockierendste Zahl im neuen UN-Bericht zum Bürgerkrieg in Syrien ist eine Minusrechnung, ein Minus an Leben. Seit Beginn des Konfliktes vor vier Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Syrien um zwei Jahrzehnte gesunken, von 75,9 Jahren auf 55,7 Jahre. Sie ist im heutigen Syrien fast um ein Drittel gefallen.

Das liegt an Armut, dem zusammengebrochenen Gesundheitssystem, aber auch direkt an den Folgen der Gewalt. Die Zahl der Kriegstoten kann nur grob geschätzt werden. Nach Angaben der UN starben im Jahr 2014 etwa 210.000 Menschen infolge von Kriegshandlungen, 840.000 weitere wurden verletzt. Die Zahl der Toten, Verstümmelten und Verwundeten macht insgesamt 6 Prozent der Bevölkerung von ehemals 22 Millionen aus.

Viele staatliche Dienstleistungen sind vollkommen zusammengebrochen. 2014 gingen ungefähr die Hälfte der schulpflichtigen Kinder nicht mehr zum Unterricht. Die meisten von ihnen haben im Krieg bereits zuvor drei Schuljahre verloren. Für diese Generation ist der Bildungszug praktisch abgefahren. Die offizielle Arbeitslosenrate ist von 15 Prozent in vier Jahren auf fast 58 Prozent gestiegen. Vier von fünf Syrern leben unter der Armutsgrenze. Zwei Drittel der Syrer vegetieren laut dem UN-Bericht in „extremer Armut“ dahin und schaffen es nicht, sich die nötigsten Dinge des Lebens zu verschaffen.

Auch 21 Hilfsorganisationen meldeten sich jetzt zum vierten Jahrestag des Beginns der Proteste gegen Präsident Baschar al-Assad mit einem Bericht unter dem Titel „Failing Syria“ zu Wort. Der lässt kein gutes Haar an den Konfliktparteien in Syrien, den Mitgliedern des Sicherheitsrates und weiteren UN-Mitgliedsstaaten, „die Resolutionen ignoriert oder untergraben haben“. Auch dort werden ernüchternde Fakten präsentiert. Danach war 2014 das blutigste Jahr des Konflikts, das mindestens 76.000 Syrerinnen und Syrer das Leben kostete. Insgesamt sind nach diesem Bericht bisher 220.000 Menschen zu Tode gekommen.

Auch der Zugang zu Hilfsgütern habe sich nicht verbessert, sondern verschlechtert: 4,8 Millionen hilfsbedürftige Menschen befänden sich in Gebieten, die von den Vereinten Nationen als „schwer zugänglich“ definiert wurden. Dies seien 2,3 Millionen mehr als im Vorjahr, heißt in dem Bericht.

Zwei Drittel der Syrer leben nach Angaben der UNO in „extremer Armut“

Gleichzeitig habe der Hilfsbedarf zugenommen: 5,6 Millionen Kinder seien auf Hilfsleistungen angewiesen, 31 Prozent mehr als 2013. Und was vielleicht am dramatischsten ist: Während die Not immer größer wird, steht immer weniger Geld zu Verfügung. 2013 waren laut dem Bericht noch 71 Prozent der erforderlichen Nothilfemaßnahmen zum Schutz von Zivilisten finanziert worden. 2014 sank dieser Anteil auf 57 Prozent.

Für Kathrin Wieland, die Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland, war das vergangene Jahr „das dunkelste seit Ausbruch dieses fürchterlichen Krieges“. Die bittere Realität sei, dass der UN-Sicherheitsrat die UN-Resolutionen nicht umgesetzt habe, erklärt sie. „Alle Konfliktparteien haben unverantwortlich gehandelt und die Forderungen des Sicherheitsrates ignoriert. Die Zivilisten, darunter viele Kinder, werden nicht geschützt vor der Gewalt, und ihr Zugang zu humanitärer Hilfe hat sich nicht verbessert.“

Visuell vielleicht am beeindruckendsten sind Satellitenbilder, die #withSyria, eine Koalition von Hilfsorganisationen, veröffentlicht hat. Dort werden Nachtaufnahmen verglichen, die aus 800 Kilometer Höhe aufgenommen wurden. Zwischen März 2011 und Februar 2014 sind landesweit kriegsbedingt die Lichtquellen um mehr als 80 Prozent erloschen. Die Stadt Aleppo bleibt beispielsweise fast völlig dunkel. In Syrien wurde in den vergangenen vier Jahren buchstäblich das Licht ausgeknipst.