Eine andere Lesart

GESCHICHTEN Hier ist Literatur noch Handwerk: Die Berliner Lesebühnen sind so beliebt, weil tatsächlich mit Hingabe vorgelesen wird. Sich alleine durch einen solchen Text durchzuarbeiten macht nur halb so viel Spaß – was auch dazu führt, dass viele Autoren nur mit Mühe von ihrer Passion leben können. Ein Bühnenrundgang

■ Noch bis zum Sonntag läuft die Buchmesse in Leipzig, in deren Rahmen tatsächlich unzählige AutorInnen ihre Texte, Werke und Bücher vorstellen. Auch einige LesebühnenautorInnen sind vor Ort. Das detaillierte Programm steht unter www.leipziger-buchmesse.de.

■ Auch die taz ist auf der Buchmesse mit einem Stand und umfassendem Leseprogramm vertreten (Halle 5, E 408). Und am Samstagabend diskutiert taz-Reporter Peter Unfried mit der langjährigen sächsischen Grünen-Spitzenkraft Antje Hermenau über Angst. Um 19.30 Uhr im Neuen Schauspiel.

VON CLAUDIUS PRÖSSER
(TEXT) UND PIERRO CHIUSSI (FOTOS)

Noch bevor es losgeht, ist die Luft im Mauersegler mit Rauch diverser Provenienz gesättigt. Die Reflexe der Discokugel schneiden wie Lichtschwerter durch den Raum, in dem ein paar Dutzend Zuschauer auf Bierbänken sitzen. Altersdurchschnitt etwa 30, mit Ausreißern. Auf der Bühne, die keine Bühne ist, sondern nur die Ecke neben dem Mikrofon, sitzen unrasierte Männer um einen Couchtisch. Eine Frau mit starkem britischem Akzent begrüßt die Anwesenden. Dann wird gebetet. Satz für Satz spricht das Publikum ihr nach: Arbeit / Geißel der Menschheit / Verflucht seist du bis ans Ende aller Tage / Du, die du uns Elend bringst und Not / Uns zu Krüppeln machst und zu Idioten / Uns schlechte Laune schaffst und unnütz Zwietracht säst / Uns den Tag raubst und die Nacht / Verflucht seist du / Verflucht / In Ewigkeit / Amen.

Das „Gebet gegen die Arbeit“ ist fester Bestandteil jedes Auftritts der „Surfpoeten“, einer der ältesten existierenden Berliner Lesebühnen. Verfasst hat es Michael Stein – Musiker, Autor, Kreuzberger, Mitgründer der ersten und vielleicht wichtigsten dieser Gruppen. Die „Höhnende Wochenschau“ und das „Benno-Ohnesorg-Theater“ sind lange Geschichte, die „Reformbühne Heim & Welt“ und die Surfpoeten leben weiter. Stein selbst starb 2007. Damals war die Zahl der aktiven Lesebühnen schon auf rund 20 angewachsen, bis heute gibt es Neugründungen. Die jüngste ist „Fuchs und Söhne“, zu der Kirsten Fuchs und drei männliche Kollegen seit einem Jahr monatlich einladen.

Fuchs ist ein Beispiel für die Diversität dieser sehr speziellen Szene, in der Platz ist vom schreibenden Spätaufsteher, der entspannt vor sich hin wurschtelt, bis zu Künstlern, die mit Erfolg beim Literaturbetrieb andocken. Ihr dritter Roman „Mädchenmeute“ ist gerade bei Rowohlt erschienen. Jochen Schmidt von der „Chaussee der Enthusiasten“ hatte Erfolg mit seinem Ferienlager-Roman „Schneckenmühle“ (C. H. Beck), den sehr produktiven Jakob Hein von der „Reformbühne“ verlegt Piper, die explizite Lebensbeichte „nichts gegen blasen“ der britischen Berlinerin Jacinta Nandi („Surfpoeten“, „Rakete 2000“) erscheint in Kürze bei Ullstein – dem Verlag, der mit den „Känguru-Chroniken“ von Marc-Uwe Kling („Lesedüne“) eine wahre Goldgrube verwaltet.

Diese lückenhafte Aufzählung von Autoren im Portfolio eines major label tut vielen anderen Unrecht. Genau genommen sind einige der erwähnten Werke nur Nebenprodukte der Bühnenaktivität, während die Geschichten – das täglich Brot des Bühnenmenschen – in kleineren Verlagen erscheinen. Einen Lesebühnen-Schwerpunkt haben hier unter anderem Voland & Quist, Verbrecher oder Edition Tiamat.

Im Mauersegler am Mauerpark steht derweil ein schmächtiger Mann mit zerzaustem Haar am Mikro. Er sieht wie jemand aus, der schon ziemlich viel erlebt hat, aber sein Vortrag ist stoisch. „Das Internet ist kaputt“, hebt er an, mit schwerem Ostberliner Zungenschlag. Genau genommen, so erfahren die Zuhörer, ist nur sein Internet kaputt, wobei, stimmt nicht, das Internet gehört ja allen, darum kann es auch nicht seins sein, na ja, das DSL-Lämpchen ist halt aus. Er ruft eine Hotline an, deren Nummer er mühsam aus dem Telefonbuch geklaubt hat, aber der Hotline-Mann will ihm nicht helfen, weil er seine Kundennummer nicht hat, die steht in einer Mail, aber das Internet ist ja kaputt. Und so weiter.

„Keine Quoten, keine Fördergelder, keine Subventionen. Nur das Publikum und wir“

HEIKO WERNING, „BRAUSEBOY“

Geschichten wie diese von Tobias Herre alias Tube, ein Urgestein der Szene, sind der Klassiker unter den Lesebühnenformaten: Alltagssituationen, die nerven, sich verkomplizieren, ins Absurde kippen. Wobei egal ist, ob die Absurdität in der Schilderung des Tatsächlichen besteht oder in einer darauf aufbauenden Denkfigur, die sich immer weiter verschraubt, oder aber im offenkundigen Einbruch des Surrealen in die Erzählung.

Verbindende Aspekte der meisten Lesebühnentexte sind die ungefilterte Abbildung eigener Erfahrung (etwa Sex), die Geringachtung des erzählerischen Ichs (das Scheitern von Sex) und der abgründige Witz (die Komik des Scheiterns von Sex). Ohne Ironie funktioniert hier gar nichts – was tragische Elemente nicht ausschließt. „Für mich gibt es überhaupt nichts auf der Welt, was nicht auch witzig ist“, sagt Kirsten Fuchs, „deswegen enthalten meine Texte immer witzige und ernsthafte Elemente.“

Dass es nicht immer lustig ist, versteht sich bei der Masse an Texten, die Woche für Woche auf die Bühnen geschaufelt werden, von selbst. Es ist auch nicht für jeden lustig. Wenn Jacinta Nandi berichtet, wie sie nach ihrer ersten Veröffentlichung in Alice Schwarzers Hauszeitschrift ihre Exfreunde davon in Kenntnis setzt, sie seien „schon mal in den Mund einer Emma-Autorin gekommen“, erntet sie im Trash-Ambiente der Surfpoeten allgemeines Gelächter. Trägt sie denselben Text beim „Kantinenlesen“ vor, dem „Gipfeltreffen der Berliner Lesebühnen“ in der schicken Kulturbrauerei, wird ebenso laut gelacht, aber es sitzen auch ein paar silberhaarige Touristen im Publikum, die das Gesicht angesäuert verziehen.

Ost-West-Unterschied

■ Die schönsten Schriftsteller Berlins gibt’s nach eigener Aussage bei der Chaussee der Enthusiasten. Sie sind jeden Donnerstagabend im Frannz-Club in der Schönhauser Allee 36 in Prenzlauer Berg zu finden.

■ Die Reformbühne Heim & Welt ist ganz oben. Quasi im Himmel über Berlin, in der Panorama-Lounge im Haus Berlin am Strausberger Platz 1. Immer sonntags nach der „Tagesschau“ eine Alternative zum alternativlosen „Tatort“-Einheitsbrei.

■ LSDLiebe statt Drogen gibt’s jeden Dienstag um 21.30 Uhr im Schokoladen in der Ackerstraße 169 in Mitte. LSD wurde 1997 gegründet und bringt ein Programm aus Texten, Tänzen und Songs auf die Bühne. Ein offenes Mikro für spontane Vorträge aus dem Publikum bieten sie auch an.

■ Die Brauseboys kommen jeden Donnerstagabend im La Luz auf dem Gelände der ehemaligen Osram-Höfe in der Oudenarder Straße 16–20 im Wedding zusammen. Für die FAZ sind sie eine „Volksausgabe der ‚Harald-Schmidt-Show‘ “, nach ihrem Selbstverständnis einfach „nur Kurzgeschichtenvorleser“.

■ Die Surfpoeten sind die „einzigste Lesebühne mit Literatur und Disco“. Ihre Surfliteratur wird begleitet vom Kampf gegen den Zwang zur Lohnarbeit, für kostenloses Essen für alle, für billiges Bier und viel Gutes mehr. Unregelmäßig im Mauersegler in der Bernauer Straße 63–64.

■ Weitere Bühnen finden sich unter www.kantinenlesen.de.

Dass vielen der Geschichtenbüchlein, die Abend für Abend am Ausgang auf Käufer warten, höhere Weihen versagt bleiben, liegt aber nicht unbedingt an deren Qualität. Sondern daran, dass das Vorlesen selbst organischer Bestandteil der Gattung ist – Selberlesen macht nur halb so viel Spaß. Bei der Performance gebe es übrigens einen Unterschied zwischen West- und Ost-Autoren, sagt Heiko Werning von den Weddinger „Brauseboys“, selbst aus Münster eingewanderter Wahlberliner: „Die typischen Ost-Lesebühnen-Leute neigen zu einer besonders unprätentiösen Form des Auftretens, eine gewisse Verweigerungshaltung gegenüber der Bühnensituation.“ Eine leicht nachvollziehbare Beobachtung: linkische Körperhaltung, monotoner Vortrag, Nuscheln, Berlinern (wo gibt’s das sonst noch?), keine erkennbare Reaktion auf Beifall. Dieser Habitus irritiert und hebt zugleich das Lakonische der Geschichten auf ein höheres Niveau.

Das unprätentiöse Gebaren, mit dem die stark vertretenen Ostberliner der Szene ihren Stempel aufdrücken, habe sich übrigens, so Werning, lange mit westdeutschen Vorlesetraditionen, etwa aus dem Titanic-Umfeld, gestoßen: Die Westler agierten eher „aus einer überlegenen, erhobenen, besserwisserischen Position heraus“, die Masche der Ostler lag „im Understatement, im Ankumpelnden“. Inzwischen habe sich das ausgeglichen – „und die Slammer sind oft so jung, dass sie mit den alten Trennungen meist eh nichts mehr anfangen können“.

Apropos: Die Kunstform Poetry Slam ist in Deutschland seit einigen Jahren extrem erfolgreich, die Meisterschaften füllen locker Säle mit zehntausend Menschen. Aber trotz zarter Überlappungen – Marc-Uwe Kling holte 2008 den Einzelsieg, Micha Ebeling und Volker Strübing von „LSD – Liebe statt Drogen“ punkteten 2006 und 2008 im Team-Contest – sind Lesebühnen und Slams getrennte Welten.

„Bei Slams ist die Bühne tendenziell zwei Meter höher, du stehst da allein und voll beleuchtet“, sagt Lea Streisand, Gründerin von „Rakete 2000“, der einzigen reinen Frauenbühne Berlins. „Und dann die Performances: Die stecken das Mikro in den Mund und schmeißen sich auf den Boden. Ich denke da immer: Macht mal nicht so’n Wind.“ Platt gesagt: Slam ist harter Wettbewerb, Neoliberalismus. Auf der Lesebühne wird nicht aussortiert, es herrscht familiäre Enge, fast schon Kommunismus.

In den Geschichten geht es um Alltagssituationen, die nerven, sich verkomplizieren, ins Absurde kippen

Damit wäre Michael Steins Vermächtnis zumindest auf den Bühnen ein bisschen eingelöst: Vorlesen als Lebensart statt Arbeit. Und als Freiheit. Heiko Werning, der – im Nebenberuf Terrariumexperte – seit 15 Jahren das Biotop Wedding kartografiert, liebt nicht nur das Anarchische und Experimentelle der Szene, sondern auch ihre Unabhängigkeit: „Keine Quoten, keine Fördergelder, keine Subventionen. Nur das Publikum und wir.“

Natürlich spüren viele auch die Prekäre des Autorendaseins, spätestens wenn sie die Einnahmen des Abends aufteilen und der Saal nicht voll war. Viele haben noch weitere Jobs, kämpfen mit dem Finanzamt oder leben von Hartz IV. Was andererseits auch wieder Stoff für gute Geschichten ist.

Der Mauersegler leert sich, und trotz der wiederholter Beteuerung von Tube, dass die „Surfpoeten auch eine Tanzveranstaltung“ seien, machen am Ende nur er und DJ Falk’n’Roll ein paar ironische Moves. Aber das geht schon klar, denn wie das „Gebet gegen die Arbeit“ ist die fruchtlose Aufforderung zum Tanzen ein identitärer Bestandteil dieser Bühne. „Obwohl, einmal haben alle getanzt“, sagt Tube später bei Bier und Selbstgedrehter. „Das war in Kassel, da kannten die uns nicht.“