Nichtschwimmer des Lebens

FINDUNGSPHASE Der Wille zur Kunst und das mediokre Dasein: Rachel Cusks entdeckungswürdiger Vorstadtroman „Die Bradshaw-Variationen“

Ausgerechnet in einem krisenhaften Moment liest die Hauptfigur Tolstois „Kreutzersonate“

VON ULRICH RÜDENAUER

Ein gewagter Beginn: „Was ist Kunst?“, lautet der erste Satz und die gewichtige Frage, die sich Thomas Bradshaw stellt. Darf am Anfang gleich ein solch plakativer Satz stehen, der doch eher einem Ausrufezeichen gleicht? Muss man holterdiepolter wie mit der Tür ins Haus mit dem größten Anspruch ins Buch fallen?

Durch Rachel Cusks neuen Roman „Die Bradshaw-Variationen“ zieht sich die Frage nach der Kunst wie ein Leitmotiv, und schon der Titel gibt einen versteckten Hinweis auf eine mögliche Lesart. Edward Elgars „Enigma-Variationen“ dienen als Referenzhorizont: Elgar komponierte das Orchesterwerk Ende des 19. Jahrhunderts. Die erste der 14 Variationen ist seiner Frau gewidmet, die weiteren Menschen, zu denen er enge Beziehungen pflegte. Dem Ganzen aber liegt ein Thema zugrunde, das nie gespielt wird. Ähnlich funktioniert Cusks Roman. Thomas Bradshaw ist einer von drei Brüdern, deren Leben in Cusks Roman episodenhaft geschildert wird. Aber das große Thema, was denn die Kunst sei und wie man die Kunst des richtigen Lebens erlernt, wird nur angedeutet und bleibt selbstverständlich ungelöst.

Thomas Bradshaw ist der mittlere der drei Brüder, befindet sich in einer Art von Findungsphase, macht Urlaub von seinem Job, während seine Frau Tonie an der Uni die Karriereleiter mehr hinaufstolpert als klettert. Er kümmert sich um seine Tochter Alexa und nimmt Klavierunterricht bei einem schwulen Pianisten, dem er fast schwärmerische Gefühle entgegenbringt. In einem krisenhaften Moment seines mediokren Londoner Vorstadtlebens liest der Hausmann Tolstois „Kreutzersonate“. Was Kunst anrichten kann, beantwortet Tolstoi ganz elementar und brutal – die klavierspielende und vermeintlich ehebrecherische Gattin wird in der Novelle kurzerhand umgebracht. Für Thomas spiegelt sich darin auf gewisse Weise sein eigenes Dasein. Aber weder ist er zu einer den Rahmen seiner Verhältnisse sprengenden Handlung in der Lage, noch kann er seine Situation in etwas Bleibendes, in ein Kunstwerk verwandeln. Thomas Bradshaw ist ein Mann in einer kapitalen Midlife-Crisis, dem die eigenen Beschränkungen deutlich vor Augen geführt werden. Nur wagt er es nicht, sich dies wirklich einzugestehen.

Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, in Los Angeles aufgewachsen und seit Langem in London lebend, hat ein feinsinniges Gespür für die langsam aufkeimenden Vorbehalte gegen den eigenen Alltag und die Kollateralschäden des familiären Zusammenlebens. Auch in anderen ihrer Bücher spielt das eine Rolle, in dem wunderbaren und zynischen Roman „Arlington Park“ etwa oder in der schonungslosen Abrechnung mit den Mythen des Mutterseins, „A Life’s Work. Of Becoming a Mother“.

Cusk hat wenig Hemmungen, in einer bestechenden, stilistisch feinen Sprache das Fraglose als fraglich zu benennen. Sie skizziert ihre Figuren, auch wenn sie ihnen zuweilen nur kurze Auftritte gestattet, mit einer beängstigenden Präzision und mit schneidendem Witz – man lernt sie manchmal besser kennen, als es einem lieb ist. Denn beschädigt sind ihre saturierten, gefühlskränkelnden und leicht resignierenden Helden allesamt. Selbst die äußerlich Gefestigten stehen auf wackligen Beinen. Thomas’ älterer Bruder Howard wird als erfolgreicher Geschäftsmann vorgestellt, den er sich jedoch immer etwas glanzvoller imaginiert, als er in Wirklichkeit ist, und dessen Unzulänglichkeiten im Lauf der Zeit ebenfalls gnadenlos aufgedeckt werden.

Cusk schafft es nicht nur, sprachlich und mental auf Augenhöhe mit ihren Protagonisten zu sein, sondern auch, in rascher Folge verschiedene Perspektiven einzunehmen. Selbstbild, fremde Projektionen und die dazwischen herumeiernde Realität – die Risse schildert sie subtil. Auch bei den Ehefrauen der Bradshaw-Männer. Sie sind auf vollkommene Weise ihren Lebenslügen verpflichtet. Claudia, Howards Frau, schleppt die erleichternde Vorstellung mit sich herum, ihr Mann habe ihre große Kunstkarriere verhindert – eine Selbstaufopferung für die Familie. Das eigens im Gartenhaus für sie eingerichtete Atelier aber scheut sie wie der Nichtschwimmer das Meer: Sie könnte entdecken, dass sie in ihren Illusionen einfach untergeht.

„Wie konnte sie ihm so fernbleiben, die Kunst, wo all die anderen ihrer doch habhaft wurden“, bemerkt Bradshaw an einer Stelle ernüchtert. Es könnte damit zu tun haben, dass er weder großes Talent besitzt noch Durchhaltevermögen. Beides lässt sich für die entdeckungswürdige Rachel Cusk ganz und gar nicht behaupten.

Rachel Cusk: „Die Bradshaw-Variationen“. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger. Rowohlt, Reinbek 2011, 287 Seiten, 19,95 Euro