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Vom Brunftschrei in Trance versetzt

KONZERT Das südsibirische Kehlgesangsquartett Huun-Huur-Tu und sein fulminanter Auftritt am Freitagabend in der Kreuzberger Passionskirche

Die Gesänge sind lautmalerisch: Man hört Pferdegetrappel und Wolfsgeheul heraus

VON ANNE-SOPHIE BALZER

Ein Röhren, Summen und kehliges Brummen erhebt sich in der Kreuzberger Passionskirche über die Köpfe der ZuhörerInnen hinweg, schwebt Richtung Altar und bis zur 15 Meter hohen gewölbten Kuppel hinauf. Man denkt an brünstige Hirsche, an tibetische Lamas und auch ein bisschen an einen Chor aus alten Mafiosi, die in ihrem Leben viel zu viel geraucht haben. Darüber flattern hohe Töne, einer Maultrommel oder kleinen Flöte gleich, und scheinen auf den tiefen Tönen zu tanzen. Es sind die Obertöne, die sich mittels einer speziellen Gesangstechnik von den tiefen Tönen trennen und bis zu zwei Oktaven höher schwingen.

Der Sound, den die vier Musiker von Huun-Huur-Tu aus ihrer Heimat, der russischen autonomen Republik Tuwa, mitgebracht haben, ist betörend. Die Gruppe ist eine der wenigen, die die Technik des tuwinischen Kehlgesangs, Khoomei genannt, meisterhaft beherrscht und sich der Bewahrung und Innovation des Liedguts ihres Nomadenvolks verschrieben hat. Schon nach dem ersten Stück fühlt man sich wie in Trance versetzt.

Draußen vor der Kirche beginnt das Berliner Nachtleben in den Bars und Kneipen, im Inneren der Kirche lauschen 480 Menschen hingerissen und mit geschlossenen Augen einer sehr fremdartigen Musik.

Die Sagen und Weisen, die ihre Lieder erzählen, sind den Musikern von Huun-Huur-Tu wichtig. Es sind die Gesänge der Nomaden, die im südlichen Teil Sibiriens und in Teilen der Mongolei seit Hunderten von Jahren leben. Und auch das Liedgut, das die vier Musiker mitgebracht haben, ist so alt. Vor jedem Stück erzählt Sayan Bapa, der einzige aus der Gruppe, der Englisch spricht, worum es geht. Meist handeln die Songs von der Natur, von schönen Frauen und verliebten jungen Männern. Und immer wieder handeln die Lieder von Pferden, vom Reiten und von den Reitwettkämpfen, die in der Steppe ausgetragen werden.

Die Musiker verstehen sich auch als Geschichtenerzähler, als Überlieferer einer Tradition. Und tatsächlich wirken sie in ihren traditionellen Gewändern, Holzschuhen und urtümlichen Musikinstrumenten ein bisschen so, als hätten sei versehentlich eine Zeitreise unternommen.

Raum für Improvisation

Seit ihrer Gründung im Jahr 1992 reisen Huun-Huur-Tu durch die Welt und singen jene Lieder, die schon ihre Großeltern, Urgroßeltern und viele weitere Generationen vor ihnen gesungen und gespielt haben. Ihre Musik fasziniert Menschen auf der ganzen Welt. Bands wie Sigur Rós, Hazmat Modine oder das Kronos Quartet suchten die Zusammenarbeit genauso wie Musiker wie Frank Zappa oder Ry Cooder. Auf den ersten Blick haben die Gesänge, deren Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen, rein gar nichts zu tun mit westlicher Musik. Doch nach und nach lassen sich auch bei den Gesängen Songstrukturen ausmachen, einzelne Instrumente isolieren, es gibt stets mehrere Strophen und Raum zum Improvisieren.

Die Gesänge sind lautmalerisch, man hört das Getrappel der Pferde heraus, ein Wolf heult einsam durch die Steppennacht, Vögel zwitschern, ein Specht bearbeitet einen Baumstamm, es gluckert ein Bach. Zum hypnotisierenden Gesang, der zwischen Laubsäge im Leerlauf, Didgeridoo, glasklarem Bariton und zwitschernden Vögeln hin und her wechselt und ein ähnliches Stimmvolumen verlangt, wie Maria Callas es besaß – fast drei Oktaven –, spielen alle Musiker weitere Instrumente. Eine Pauke, mehrere traditionelle Saiteninstrumente, eine davon die Igil, eine zweisaitige Laute mit einem kunstvoll geschnitzten Pferdekopf, Flöten und Maultrommeln werden von Huun-Huur-Tu in die traditionellen Gesänge eingebaut, die früher ganz ohne Instrumente vorgetragen wurden. Eine Akustikgitarre ist das einzig moderne Instrument, das Huun-Huur-Tu einsetzen. Auf ihren Alben arbeiten Huun-Huur-Tu auch mit Synthesizern, was einmal mehr für einen modernen Anspruch an die tradierten Stücke spricht. Der tuwinische Kehlgesang klingt durch seine Tradition und durch die spezielle Technik anders als westlicher Obertongesang. Die besondere Kunst der Kehlsänger in Zentralasien ist der Gebrauch von Untertongesangstechniken, in der tuwinischen Sprache Kargyraa genannt, der durch einen besonderen Einsatz des Kehlkopfes Töne hervorbringt, die unterhalb des Singtons liegen. Ähnlich werden auch jene Töne erzeugt, die oberhalb des gesungenen Tons liegen.

Oft wird auf dem Wort „Hang“ begonnen, dessen nasaler Klang die Entstehung von Obertönen erleichtert. Anschließend werden die Lippen zu Vokalen wie U, O, A, Ä, E, I geformt, und es entstehen feine Töne in der Höhe.

Auf den Kirchenbänken der Passionskirche brüllen und klatschen Tattoo-, Bart- und Anzugträger genauso wie Dreadlock-Typen und Rentner nach jedem Lied mit Begeisterung. Am Ende gibt es Standing Ovations. Ein Lächeln huscht über die Gesichter der Musiker, aber nur kurz. Dann verbeugen sich Kaigal-ool Khovalyg, Sholban Salchak, Alexej Saryglar und Sayan Bapa und entschwinden in die Berliner Nacht. Ein lang gezogenes „Haaaaaaaang“ hängt in der Luft.

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