Wir Wunschmaschinen

Kein Grund zur Panik: Zwar löst sich in den Bildern des Situationisten Roberto Matta fast alles auf. Doch wirken seine im Kunstverein „El Sourdog Hex“ gezeigten Bilder gelassen

Wir sind Wunschmaschinen, nicht die Hauptdarsteller unserer persönlichen Geschichte. Die Theorie des „Anti-Ödipus“ der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari stellt sich das Subjekt als aufgelöst in eine „Organisation von heterogenen Fragmenten“ vor, die mit anderen mehr oder minder funktionstüchtigen Systemen wie Politik und Wirtschaft interagieren. Diese Theorie scheint nirgends einleuchtender präsent als in den sieben großformatigen Ölgemälden von Roberto Matta, die jetzt im Kunstverein „El Sourdog Hex“ in der Zimmerstraße zu sehen sind.

Matta stieß Mitte der Dreißigerjahre zur surrealistischen Bewegung und illustrierte André Bretons letztes Manifest. 1948 wurde er dennoch von den oft dogmatischen Surrealisten herausgeworfen und stand danach den Situationisten nahe. Später engagierte er sich für die revolutionären Bewegungen in Südamerika und Afrika, malte für die angolanische Befreiungsfront und Salvator Allende. Die Berliner Nationalgalerie und Peugeot-Arbeiter in Sochaux organisierten bereits 1970/71 Retrospektiven, er starb 2002.

In den sieben Gemälden, die der private Kunstverein mit dem komplizierten Namen heute zeigt, entfalten sich geheimnisvoll animierte Szenarien aus einer Maschinenwelt. Losgelöst schweben Strukturen, Raumelemente, Energiechiffren und roboterähnliche Protagonisten umher, füllen leuchtende Farbräume aus Schwefelorange, Ozeanblau, Picasso-Blau, Picasso-Rosa, Gelb und Grün mit ihrer Geschäftigkeit. Humanoide Formen wie Schädel, Arme und Hände lassen sich höchstens ahnen, dennoch ist die Stimmung nicht bedrohlich, es stellt sich kein Gefühl der Entfremdung ein, keine chaplineske Angst vor dem Maschinenzeitalter. Denn hier droht kein gewaltsames Ende der Menschheit, nicht mal in dem Eingangsbild „The Splitting of the Ergo“ von 1945–46.

In „Evolution d’une cible“ („Entwicklung einer Zielscheibe“) von 1956 reißt ein Geschoss die Farbringe der Zielscheibe auseinander, löst sich selbst dabei aber ebenfalls auf. Kein katastrophaler Knall, sondern der Übergang in eine neue Konstellation ist hier in Szene gesetzt; die geheimnisvollen Zugkräfte und dynamischen Gesetze des Wandels. Auch Anspielungen auf Körperfunktionen und die menschliche Sinnlichkeit spielen eine wichtige Rolle in Mattas Bildern. In „D’Être fou“ (1968) laufen Phalli neben einem anusartigen Loch vom Fließband, ein furzender Hintern dient als Gebläse. Eine Ästhetik von Comic und Graffiti wuchert in schillernd assoziativer Vielfalt.

Matta verstand sich als Dichter ebenso wie als bildender Künstler und verfasste zahlreiche Texte und Aphorismen. Die Kunst sei eine „Initiation in die Mysterien unseres eigenen Lebens“, schrieb er und fragte: „Wie nahe können wir dem Geist kommen, um eine Karte der Bewusstheit zu entwerfen?“ Und so setzte er „Psychogeographien“ im Sinne des Situationisten-Chefs Guy Debord und der 20 Jahre später dieser Spur folgenden Denker Deleuze und Guattari ins Bild.

Ein weiterer aufschlussreicher Werktitel heißt „Je-ographie“. Das zugehörige Gemälde von 1970 ist das freieste in der ganzen Ausstellung, verströmt Heiterkeit statt Ironie, Gelassenheit statt Coolness. Matta zeigt sich hier von allen Zeitgeist-Schulen emanzipiert, folgt ganz seinem eigenen Rhythmus und wirkt so zeitlos frisch und gültig, dass es einfach eine Freude ist.

HENRIKE THOMSEN

Bis 29. 12., Zimmerstr. 77, Di–Sa 11–18 Uhr, Eintritt frei