„Schiffe voller Auswanderer“

LESUNG Karsten Flohr präsentiert „Die letzte Fahrt des legendären Schiffsfrisörs Sigismund Skrik“

■ 64, ist Wissenschaftsjournalist und Autor. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2012 unter dem Titel „Leah“.

taz: Herr Flohr, wieso handelt Ihr neuer Romans ausgerechnet von einem Schiffsfrisör?

Karsten Flohr: Frisöre sind Leute, denen man viel anvertraut. Und dieser Frisör, der auf einem Auswandererschiff im 19. Jahrhundert arbeitet, hat täglich Leute mit außergewöhnlichen Biografien vor sich, die sie ihm erzählen. Außerdem erlebt er mit seinen Kundinnen und Kunden an Bord sehr viel. Insofern ist er die ideale Figur, um zu erzählen, was an Bord so eines Auswandererschiffs alles passiert ist.

Was erlebt dieser Herr Skrik?

Er erlebt, wie diese Menschen versuchen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, indem sie ihm erzählen, wieso sie ihre Heimat und ihre Existenz aufgeben. Und er erlebt auch Episoden an Bord: Es gibt da zum Beispiel eine Gruppe von belgischen Klöpplerinnen, die angeworben worden sind, um in Amerika in einer Textilmanufaktur zu arbeiten. Die machen einen kleinen Aufstand, weil sie nicht länger in der zweiten Klasse unten im Schiffsbauch leben wollen, wo ganz üble Bedingungen herrschen. Also es geht sehr turbulent zu auf diesem Schiff.

Hat es dieses Segelschiff, die „Liberty“, wirklich gegeben?

Dieses Schiff nicht, aber es hat eine ganze Menge Segelschiffe gegeben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bevor sie von Dampfschiffen abgelöst wurden, ständig zwischen Europa und Amerika unterwegs waren. Auf dem Weg hierher waren sie voller Baumwolle, auf dem Weg zurück voller Auswanderer.

Also ist Ihr Buch eher fiktiver Natur?

Die Handlungen sind fiktiv, aber der Hintergrund ist real.

Haben Sie selbst Vorfahren, die nach Amerika ausgewandert sind?

Nein. Ich bin auf die Idee gekommen, weil ein Freund von mir einen Ururgroßvater hatte, der Frisör auf Auswandererschiffen war. Und das erschien mir als interessante Idee für einen Roman.

Ist die Situation der damaligen Auswanderer vergleichbar mit der von Flüchtlingen heutzutage?

Ein Großteil der Auswanderer kam aus osteuropäischen Ländern, etwa die andere Hälfte aus Deutschland. Und das waren Leute, die vor Krieg, vor Unterdrückung, vor Armut, vor Arbeitslosigkeit auf der Flucht waren, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Also im Grunde dieselben Motive, die die Völkerwanderungen heute auch haben. INTERVIEW: VAR

18.30 Uhr, Internationales Maritimes Museum, Koreastraße 1. Eine Anmeldung unter ☎ 300 92 30 14 ist erforderlich