WIR:HIER

Kapitel 20

Oh, mein Gott, das ist es! Wir haben den Tunnelzugang gefunden!“, wiederholte Matteo. Aufgeregt wischten sie Erde, vertrocknetes Laub, Moos und Müll beiseite, bis die Luke aus Metall vollkommen frei lag. Der eiserne Ring an einer der Seiten, mit dem man sie hochheben konnte, war so verrostet, dass er bröselte, als Laura vorsichtig daran zog. Sie probierten, den Deckel mit dem Kuhfuß aufzuhebeln, und nach einer Weile war eine Ecke weit genug aufgebogen, um einen ersten Blick hineinwerfen zu können. Laura warf sich auf den Boden und leuchtete mit dem Handy in das Dunkel. „Da sind Sprossen in der Wand. Ich kann bis auf den Grund sehen, ist nicht tief, drei, vier Meter vielleicht. Wir müssen die Klappe weiter aufhebeln, dann passen wir durch.“

Jedes Mal, wenn sie die Brechstange ansetzten, gab es ein grässlich lautes Geräusch. „Mann, das hört man doch kilometerweit.“ Sie blieben mucksmäuschenstill stehen und lauschten in den Sommerabend. Kein Hund schlug an, kein Fenster wurde geöffnet, und endlich klaffte der Deckel weit genug auseinander, um vorsichtig die Sprossenwand hinabzuklettern. Unten angekommen blieben sie stehen, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ihre Herzen nicht mehr ganz so wild klopften. Vor ihnen lag wirklich und wahrhaftig ein Tunnelgang! Er war so niedrig, dass sie die ersten Meter nur gebückt laufen konnten, aber dann wurde die Decke höher und der Gang breiter. Gleichzeitig sogen sie die abgestandene Luft tief ein und mussten vor Aufregung lachen. „Mmh, ein würziger Jahrgang. Leichter Schimmel im Abgang.“ Matteo stieß Laura an. „Hör auf mit dem Quatsch!“

Sie hielt ihr Handy gegen die nackten, feucht glänzenden Backsteine, aus denen der Gang gemauert war. Verstaubte Spinnweben klebten an den Wänden und der Decke aus grob verputztem Beton. An einigen Stellen sahen sie freiliegende Stahlträger. Dicke schwarze Kabel liefen über ihren Köpfen entlang, der ganze Stollen war klamm, auf dem schlammigen Boden sammelten sich Pfützen, von oben tropfte es.

„Stalagmiten. Guck dir das an, da wachsen Stalagmiten wie in einer Tropfsteinhöhle.“ Matteo widersprach Laura: „Nein, das sind Stalaktiten. Kennste nicht die Eselsbrücke? Stalak-Titten hängen runter.“

„Sehr witzig. Meinst du, vor uns war schon mal jemand hier unten? Also nach 1945? Vielleicht liegen weiter hinten noch … Leichen?“

„Quatsch. Das ist eher ein Nebentunnel. Ich glaube nicht, dass sich hier Menschen versteckt hatten. Außerdem: Der Krieg ist seit siebzig Jahren vorbei. Da ist von Toten nichts mehr übrig.“

Laura sah ihn zweifelnd an. „Genau, und darum gibt es auch auf der ganzen Welt keine Knochen, die älter als siebzig Jahre sind.“

„Prinzesschen, du bist eine Klugscheißerin.“

„Bin ich nicht. Ich hab mal gelesen, dass in Berlin die Toten auf Friedhöfen nicht wirklich verwesen, sondern sich zu Wachsleichen entwickeln, weil das Grundwasser hier so hoch steht. Das sieht vielleicht eklig aus. Und in Palermo war ich mal in einer Gruft, da hängen überall Skelette an der Wänden, und in einem Sarg liegt ein Mädchen, Rosalie hieß die, und sie war acht oder neun Jahre alt, als sie gestorben ist. Vor über 100 Jahren, aber es scheint, als ob sie nur schläft. Die hat sogar noch ganz rosige Wangen und Wimpern und im Haar eine Schleife. Das ist gruselig. Wie in einem Vampirfilm. Man wartet darauf, dass sie die Augen aufmacht.“

Unschlüssig blieben sie stehen, bis sie in der Ferne das vertraute Quietschen einer S-Bahn hörten. Das Brummen wurde lauter, sie spürten die Vibration, dann eine Erschütterung, und plötzlich rieselte eine Menge loser Putz von der Decke. Als ein handtellergroßer Brocken neben ihnen in eine Pfütze platschte, sprangen sie zur Seite und versuchten sich mit den Händen über den Köpfen zu schützen. Erst als die Geräusche wieder leiser wurden, richteten sie sich auf.

„Krasse Scheiße! Ich hab mich total erschrocken. Aber wir sind zumindest auf der richtigen Fährte. Es gibt eine Verbindung zur S-Bahn.“ Laura leuchtete noch mal an die Decke, ein Teil der Stahlträger war nicht nur rostig, sondern auch gefährlich durchgebogen. Was, fragte sie sich, wenn, genau jetzt, dieser alte Gang einstürzte? Sie hatten niemandem Bescheid gegeben, wo sie hinwollten. Niemand käme auf die Idee, sie hier zu suchen, wahrscheinlich würde man es oben überhaupt nicht sehen, wenn der Tunnel zusammensackte. Es war ein bedrohliches Gefühl, mehrere Meter unter der Erde zu hocken, durch eine dicke Schicht Beton von der Außenwelt abgeschirmt.

„Besser, wir schicken eine SMS an Cem oder Szusza. Nur zur Sicherheit.“ Matteo nickte zustimmend, tippte eine Nachricht und drückte auf Senden. „Ich hab keinen Empfang. Und nur noch ganz wenig Akku. Versuch du mal.“

Laura hielt ihr Handy in alle Richtungen, dann schüttelte sie beklommen den Kopf. Sollten sie umkehren, aus dem unterirdischen Gang wieder hochklettern, um eine SMS zu schicken?

In Berlin verwesen die Toten nicht wirklich, sondern entwickeln sich zu Wachsleichen

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER

www.sarah-schmidt.de