Ficker, die meine Feinde hassen

THEATER In und mit der Jugendstrafanstalt Berlin inszeniert „aufBruch“ Nigel Williams „Klassenfeind“ auf umwerfende Weise

An anderen Theatern wird man mehr oder weniger witzig darum gebeten, vor der Vorstellung das Handy auszuknipsen. Hier darf man es erst gar nicht mit in den Zuschauerraum nehmen. Es bleibt im Spind in der Sicherheitsschleuse. Der Grund ist aber nicht sakrale Stille im Theater. Es liegt an den Gefängnisbestimmungen. Denn die Bühne ist der „Kultursaal“ der Jugendstrafanstalt. Es spielen: die „schlimmsten jungen Männer von Berlin“. Sagt selbst der Regisseur, der sie sehr gern hat.

Warum sollte man sich das antun? Weil es keine wohlfeile Sozialpädagogik ist, sondern packendes Theater.

Das Stück beginnt: „Glauben Sie, dass Sie radikalisiert – „Klar, Mann!“ Neun Jungs um die 20 nehmen die Lieblingsfragen ihrer Lehrer und Sozialarbeiter aufs Korn. Weil man sie hier allein lässt in ihrem Klassenzimmer, sie „verschimmeln“ lässt, wie sie es sagen: „Die haben mit uns Schluss gemacht!“ Den Unterricht schmeißen sie deshalb selbst. Abwechselnd darf jeder mal den Lehrer machen. Sex und Gartenpflege stehen dann auf der Agenda. Nicht zu vergessen: Brot-und-Butter-Speise.

Erst dachten die Jungs im Stück, das wird ein Spaß, sich selbst die Unterrichtsthemen zu setzen. Aber sie merken rasch: All das läuft viel schlimmer ab als sonst, mit Lehrer. Auch rassistische Töne werden laut und dann beschwichtigt. „Aber, nee, ich hab nichts gegen dich und Schwarze. Ich meinte eben nur ’nen Fantasie-Nigger“.

Das Drama „Klassenfeind“ des Briten Nigel Williams aus dem Jahre 1978 hat die aufBruch-Theatertruppe rund um Regisseur Peter Atanassow und Dramaturgin Anna Galt aus der Londoner Vorstadt ins Berlin der Gegenwart gehievt: Gesundbrunnen, Görli und Hasenheide sind die Settings der Geschichten, die die Jungs erzählen. Am Text haben sie nicht viel herumgeschraubt. Bloß die derbe Umgangssprache brachten sie auf den Stand des 21. Jahrhunderts.

Sehnsucht nach stillem Glück kommt auf: „Ist dir das noch ein Begriff: mögen?“ Ein Umfeld, das Freunde so definiert, dass sie „die Ficker sind, die meine Feinde hassen“, macht das schwer. In Schwarzweißvideos kommen die Spieler in nahen Einstellungen mit selbst verfassten Texten zu Wort – spaßig, aber auch beklemmend: Ob man wissen wolle, wie man hier schnell rauskomme? Er wisse es: „Ganz simpel. Du hältst dich an die Regeln. Die Regel regelt das System. Das System kannst du nicht regeln.“

Man denkt: Klar, die Jungs sind so umwerfend gut, sie spielen auch sich selbst. Entgegen der Intuition macht es das allerdings nicht leichter, versichert Regisseur Atanassow im Publikumsgespräch. Gerade durch diese Nähe zu den Charakteren lieferten sich die Spieler aus. Das führte auch bei den Proben bei aller Katharsis zu allerhand Abwehr. Atanassow muss es wissen, denn er macht diesen Job seit gut einem Jahrzehnt. „Es geht nicht nett zu“, sagt Atanassow, wenn die Jungs, darunter viele ohne Schulabschluss, viermal die Woche sechs Stunden lang proben, nach der regulären Arbeit. Zwei Monate lang. Respekt!

Man ahnt den Stress nur noch, wenn die neun jungen Männer, vom Applaus des Publikums erleichtert, im Rampenlicht erstrahlen. Sie haben ihn sich wahrlich verdient. Was sie als Nächstes spielen wollen, fragt hinterher einer. „Hamlet“ vielleicht? „Romeo und Julia“, kommt zur Antwort, alle aus der Männertruppe lachen herzlich. Denn das ist fast so unwahrscheinlich, wie sie jetzt dem Publikum folgen dürften. Die Zuschauer werden gleich durch die Sicherheitsschleuse geschleust. Der kalte Wind wird ihnen ins Gesicht schlagen. Sie, die Spieler, werden in ihre Einzelzellen zurückkehren. 9,5 Quadratmeter pro Mann. „Bücher können nach Überprüfung genehmigt werden“, heißt es in den Regeln.

STEFAN HOCHGESAND

■ JSA Berlin, Friedrich-Olbricht-Damm 40, 20., 23., 25. und 27. März, um 17.30 Uhr (letzter Einlass um 17.15 Uhr; nur mit persönlicher Anmeldung fünf Tage vorher; Karten an der Volksbühne erhältlich)