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Retro als Tradition

Die sogenannte „ewige Wiederkehr des Gleichen“ hat etwas Beruhigendes, Verlässliches. Eine Sache, die regelmäßig wiederkommt, kann bestens die eigenen Erwartungen regulieren und die eine oder andere Konstante im Alltag einführen. Theoretisch zumindest, denn schon in seiner Wiederkehr ist das, was zuvor gewesen ist und in der Zwischenzeit erst einmal weg war, nicht mehr dasselbe wie einst, es bleibt eine Wiederholung. Vom Gleichen kann bei so einer Wiederkehr daher streng genommen keine Rede sein.

Im Pop standen die Zeichen dieses Jahr voll und ganz im Zeichen von Revivals und anderen Wiedergängern, dank Simon Reynolds Buch „Retromania“, in dem sich der Autor mit der Vergangenheitsbesessenheit der Pop-Gegenwart beschäftigt. Auch hier ist die Musik von früher, die wiederbelebt wird, nicht identisch mit ihrem Vorbild, dafür legen die Musiker eine stark rückwärtsgewandte Haltung an den Tag. Hinzu kommen die vielen Reunions von längst abgetretenen Bands und das vermehrte Wiederauflegen großer und weniger großer Klassiker.

Damit folgt der Pop der gängigen Praxis des Klassikbetriebs. Der kennt die Konvention des Revivals seit dem 19. Jahrhundert, davor war die Konzerttradition der „Kunstmusik“ einigermaßen im Hier und Jetzt verankert. Komponisten schrieben für bestimmte Anlässe, Wiederholungen bildeten eher die Ausnahme – und Tonträger waren damals ja noch nicht im Spiel.

Dass man etwa Johann Sebastian Bachs Musik regelmäßig zu wichtigen christlichen Festen spielt, ist seinem Kollegen Felix Mendelssohn-Bartholdy zu verdanken, der 1829, knapp achtzig Jahre nach Bachs Tod, dessen längst vergessene Matthäus-Passion in Berlin dirigierte und so ins Gedächtnis der Musikwelt zurückholte. Auch das Weihnachts-Oratorium, das so selbstverständlich zur Adventszeit gehört wie Tannenzweige und Lebkuchen, kam erst im Dezember 1857 wieder zur vollständigen Aufführung, abermals in Berlin.

Gegenüber der Popmusik haben die klassischen Revival-Bestrebungen den Nachteil, dass es keine Tonaufnahmen aus Bachs Zeit gibt. Die historische Aufführungspraxis ist ein Versuch, den Unterschied zum Original möglichst gering zu machen – mit authentischen Instrumenten und historischen Spieltechniken. Aber Wiederholung bleibt Wiederholung. Und ein wenig Unklarheit über den „echten“ Klang von Bach und Co. kann ja nur helfen, die Fantasie zu beleben – für die Gegenwart. Tim Caspar Boehme

■ Weihnachts-Oratorium: Dom (Teile 1-3), Fr., 20 Uhr, Sa., 15, 17.30 Uhr, Do., 20 Uhr; Konzerthaus (Teile 1-3 + 6), Sa., 16 Uhr; Philharmonie (komplett), Do., 19 Uhr

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