Der Qual lächelnd die Stirn bieten

DICHTUNG Franziska Walser und Edgar Selge spielen Goethes „Iphigenie auf Tauris“ im Gorki Theater

So viel Goethe war lange nicht mehr. Wie sich diese Sätze drehen und wenden, hinabtauchen in die Vergangenheit und die Erinnerung und das Gefühl damals mit dem Gefühl heute und der Gegenwart verbinden. „Iphigenie auf Tauris“, das wird in der Interpretation von Franziska Walser und Edgar Selge zuallererst mal eine Geschichte, in der man jedes Wort versteht. Und notwendig und an seinem Platz findet.

Das ist selten. Denn „Iphigenie auf Tauris“, dieses Drama aus der Epoche des Idealismus in der deutschen Klassik, kann ganz schön nerven auf der Bühne. Dieses viele Gedöns mit den Göttern und Flüchen und Pflichten. Mach mal hinne, Mädchen, möchte man da der auf eine Insel verbannten Heldin Iphigenie zurufen, nun nimm den König Thoas als Mann oder flieh mit deinem Bruder Orest, aber breite bitte nicht noch eine Klage, noch einen Schmerz vor uns aus! Aber nein, Schrecken häuft sich auf Schrecken, ein Familienmord nach dem nächsten wird ans Licht gezerrt, vor lauten Mitleiden verliert man die Übersicht. Dann ist das Drama nicht mehr spannend. Dann geht es nur noch um den unermesslich großen Schmerz von Iphigenie.

In der Fassung, mit der sich dieses Schauspielerpaar Goethe zu eigen macht, ist das anders. Alles bleibt eine Spur verhaltener, kleiner, näher dran. Franziska Walser spielt Iphigenie, Edgar Selge den König Thoas, einen Boten des Königs und die beiden an Thoas’ Insel gestrandeten Griechen Orest und Pylades. Er schreibt auf einen Tisch, wen er gerade darstellt, eine Kamera zeigt es als Projektion. Er legt sich auf den Tisch und die Kameratechnik verdoppelt sein Bild, als Orest und Pylades über den nahenden Tod reden, den der Erstere will, von Schuldgefühlen verfolgt, und der andere nicht. Das sind kleine Tricks, aber auch schöne, unheimliche Bilder, das Liegen im Grab vorwegnehmend. Mit Puppen als Schattenfiguren erzählen Walser und Selge die einzige Szene, in der alle vier Männer auftreten. Da ist das Drama schon bald zu Ende und der glückliche Ausgang nah.

Der Abend, den das Gorki Theater zusammen mit den Ruhrfestspielen produziert hat, ist natürlich auch eine Selge-Show. Er hat ihn mit seiner Frau ohne Regisseur inszeniert. Man denkt sich also, die zwei machen Goethe, weil sie Goethe lieben, weil sie mal spielen wollen, ohne das Konzept eines dritten umsetzen zu müssen. Diese Rahmung gibt natürlich auch vor, dass das Ehepaar einen Subtext mitspielt, ihre Beziehung, um sich in den Dramenverhältnissen zu spiegeln. Das tun sie zwar, aber nur sparsam. Auf eine Zimmerschlacht kam es ihnen nicht an.

Nein, ganz im Gegenteil. Es ist eine Ökonomie der Sparsamkeit, mit der sie die Glaubwürdigkeit der theatralisch schon so ausgeleierten Empfindungen wiederherstellen. Die Spannung entsteht aus dem Zurückgedrängten, aus dem, was schmallippig und lächelnd sogar ausgesprochen wird, aber nicht expressiv ausagiert, aus dem Festklammern an den Konturen des Aushaltbaren.

Dieses Theater will keine Zumutung sein. Es will keine Mauern einreißen und mehr als Theater sein. Gerade darum funktioniert es gut, konzentriert. Selbst da, wo das Drama als klassische Literaturübung ausgestellt wird, wo Edgar Selge, als Pylades etwa, mit milder Ironie den Text ein bisschen so laufen lässt, dass das Auswendiggelernte aufscheint und der Rhythmus über den Wortsinn siegt. Man nimmt Goethe beim Wort, aber man stellt ihn nicht auf einen Sockel. Und das hat etwas Entspannendes.

KATRIN BETTINA MÜLLER

■ Wieder am 18. Dezember, am 1. und 13. Januar im Gorki Theater