Vertrauen statt Kontrolle

Viele Politiker wollen Kinder mit Arztzwang und Jugendamt schützen. Dabei können Konzepte mit Patinnen und Hebammen auf Erfolge verweisen

Vor der Familientragödie im schleswig-holsteinischen Darry, bei der fünf Kinder getötet wurden, hat es nach Angaben der Leiterin des Plöner Gesundheitsamts „keinerlei akute Anzeichen einer Gefährdung der Kinder durch ihre Mutter gegeben“. Eine vorsorgliche Einweisung der psychisch auffälligen 31-Jährigen sei deshalb nicht möglich gewesen. Die Mutter habe sich am 17. August bei einem Psychiater einer Fachklinik vorgestellt. Dabei wurde eine akute Gefährdung ausgeschlossen. Zwei Tage zuvor hatte sich einer der Väter der fünf getöteten Kinder wegen des psychischen Zustands der Frau besorgt an das Gesundheitsamt gewandt. Seither sei die Familie vom Sozialpsychiatrischen Dienst und vom Jugendamt unterstützt worden. Die Kinder seien regelmäßig in der Schule erschienen. Alle hatten Notrufnummern, auch der Vater. „Aber niemand hatte sich bei uns wieder gemeldet“, sagte die Leiterin des Gesundheitsamts, Regine Dworak. DPA

VON JAN PIEGSA
UND GEORG LÖWISCH

Der Ablauf ist gut eingeübt. Die Nachrichten bringen den Fall einer Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt oder getötet hat. Schon wenige Stunden später verlangen geschockte Politiker, dass Staat und Gesellschaft besser aufpassen müssen. Als die Polizei diese Woche fünf tote Kinder in Schleswig-Holstein fand, meldete sich sogar die Kanzlerin zu Wort und forderte eine Kultur des Hinsehens. In der Debatte fielen Schlagworte wie „Zwang“ und „Pflicht“, und die bayerische Sozialministerin Christa Stewens (CSU) sagte: „Wir müssen das Wächteramt des Staates stärken.“

Eine Grundidee ist, dass vernachlässigte Kinder vom Arzt entdeckt werden sollen, bevor es zu spät ist. Der kann dann das Jugendamt einschalten. Schon bisher bieten Kinderärzte und Krankenkassen Vorsorgeuntersuchungen an: Von U1 bis U9 können Eltern ihren Nachwuchs checken lassen – freiwillig. Nun verlangt zum Beispiel Berlins Gesundheitssenatorin Karin Lompscher (Linke), die Untersuchungen zur Pflicht zu machen. Wer nicht kommt, erhält eine Mahnung, danach steht jemand vom Jugendamt vor der Tür. Bayern kündigte Ähnliches an, und die hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) verkündete stolz, dass das Mahnsystem in ihrem Land bereits vom 1. Januar 2008 an greifen werde.

Die Diskussion läuft ein wenig so, als könnten die U das deutsche Familienwohl flächendeckend retten. Dabei liegt beispielsweise zwischen der U7 und der U8 über ein Jahr. Als am Freitag bei einer Fachtagung in Berlin die Rede auf die ärztliche Vorsorge kam, sprach der Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Gerd Hoofe, von „trügerischer Sicherheit“. Trotz Untersuchung könnten Eltern Misshandlungen vertuschen – und vorhersagen könne sie ein Arzt auch nicht. Der Chef des Kinderärzte-Verbandes, Wolfgang Hartmann, sagte, ein Mediziner dürfe nicht Überwacher, sondern müsse eine Vertrauensperson sein.

Wie schafft es der Staat, dass Kinder nicht verhungern oder geschlagen werden, ohne dass es das Jugendamt merkt? Das Bundesfamilienministerium beginnt gerade Projekte, die auf lokaler Ebene alle Stellen miteinander vernetzen sollen: Schwangerenberatung, Kliniken, Kitas und Jugendämter.

In Dormagen kennen sie dieses Konzept schon lange. Die Eltern in der 65.000-Einwohner-Stadt bei Köln bekommen dort nach der Geburt ihres Kindes einen Brief vom Bürgermeister. „Ich wünsche Ihnen und der neuen Erdenbürgerin alles Liebe und Gute“, schreibt Heinz Hilgers. Danach folgt die Ankündigung, wann ein Bezirkssozialarbeiter vorbeischaut, um ein Babybegrüßungspaket zu überreichen: ein Ringbuch, das unter anderem Kindergeldantrag, Infos zur Kinderbetreuung sowie Gutscheine für Bibliothek oder Schwimmbad enthält. Dazu kommen Zahnbürste, Märchenbuch, sogar ein CumarinRauchmelder.

Bürgermeister Hilgers ist ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Ihm war es wichtig, dass sich das Angebot an alle Familien richtet, um Stigmatisierung zu vermeiden: Wenn ein Sozialarbeiter zu allen kommt, wird auch nicht getuschelt. 2007 fanden 500 dieser Besuche statt – auf Nachfrage begrüßten 95 Prozent der Eltern die Initiative. Hilgers hat seine Sozialarbeiter in Workshops schulen lassen, damit sie erkennen können, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Genau wie die Mitarbeiter von Kitas und Jugendzentren.

Man kann sich fragen, warum nicht längst jede Stadt die simple Idee mit dem Begrüßungspaket praktiziert. Und dennoch hat die Idee Grenzen: Die zwölf Sozialarbeiter in Dormagen sind jeweils für 5.000 Menschen da. Im Regelfall besuchen sie die Familien nur einmal. Und trotz des schnuckeligen Pakets – wer schenkt einer Amtsperson Vertrauen?

In einigen Gegenden Deutschlands werden deshalb Modelle erprobt, die es in Finnland schon gibt: Im hessischen Melsungen begleiten Hebammen Familien über die Zeit nach der Geburt hinaus. Einige Krankenkassen und die Stadt tragen die Kosten. Im Landkreis Oberspreewald-Lausitz wurde ein Patinnenkonzept entwickelt. Wenn Schwangere beim Frauenarzt oder der Schwangerenberatung sind, werden sie darauf angesprochen. Füllen sie ein kurzes Formular aus, kommt in der Schwangerschaft eine Patin vorbei.

Die 76 Ehrenamtlichen sollen nicht schnüffeln, sondern von vornherein dazu beitragen, dass es nicht zur Krise kommt: indem sie Rat geben, die Mütter durch die Familienangebote vor Ort navigieren oder einfach zuhören.

Gesellschaft statt Staat, Vertrauen statt Kontrolle – das Konzept wird angenommen. Der Kreis hat 130.000 Einwohner. 303 Familien, die seit Mai 2006 Nachwuchs bekommen haben, machen mit – das sind 60 Prozent. Bis zum dritten Lebensjahr sollen die Patinnen elfmal vorbeischauen, oft entsteht ein engeres Verhältnis. Die Ehrenamtlichen werden geschult – vom Antragausfüllen bis zur Zahngesundheit. Das Land Brandenburg zahlt nur die Fahrtkosten.