WIR:HIER

Kapitel 20

Laura und Matteo überlegten: Sollten sie umkehren, wieder hochklettern, um Cem oder Szusza zu simsen, wo sie waren und was sie vorhatten?

„Matteo, überleg mal, der Tunnel, der ist über siebzig Jahre alt. Es fahren täglich S-Bahnen, ohne dass etwas passiert. Der ist so konstruiert, dass er nicht einstürzt. Warum also heute? Das ist mehr als unwahrscheinlich, oder?“

„Aber hier wurde so viel Neues gebaut. Die ganze Statik, das konnten die Architekten nicht wissen, als sie die Anlage planten. Und ich weiß auch nicht, ob dieser Gang nur eine Übergangslösung war, vielleicht sollte er eigentlich noch verstärkt werden, aber dann hatte man es im Krieg nicht mehr rechtzeitig geschafft.“

„Ach was. Jetzt sei nicht so ein Angsthase.“

Laura hatte selber Angst und war keineswegs sicher, ob sie sich traute, ein zweites Mal runterzugehen. Aber sie wollte auf keinen Fall aufgeben und auf eine seltsame Art wurde sie durch Matteos Bedenken mutiger. Trotz der Befürchtung, verschüttet zu werden oder auf Wasserleichen zu stoßen, trotz der Enge des Tunnels, der Dunkelheit und des modrigen Geruchs war dieser Ausflug in die Unterwelt das Spannendste, das sie seit Langem erlebt hatte.

Sie gab sich einen Ruck, die Entscheidung war getroffen und Matteo lief ihr hinterher, sie spürte seinen Atem im Nacken. Sie gingen vielleicht zweihundert Meter geradeaus. Durch die Dunkelheit, die nur vom Handylicht durchbrochen wurde, veränderte sich ihr Raum- und Zeitgefühl. Seit wann waren sie hier unten? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Es war still, hin und wieder das Brummen der Züge, das lauter und wieder leiser wurde, Wasser, das von der Decke tropfte, ihre Schritte, wenn sie in Pfützen traten, sonst hörten sie nur ihr eigenes Atmen, das in den Ohren dröhnte.

In regelmäßigen Abständen waren Eisenringe auf Kopfhöhe in die Wände eingelassen. Halterungen der früheren Tunnelbeleuchtung? An einem dieser Ringe hing windschief noch ein Schutzgitter. Das Glas dahinter war bis auf ein paar Splitter zerbrochen, ebenso die Glühbirnenfassung aus Porzellan. Eine matschige Pappschachtel lag daneben, darauf die Aufschrift „Sicherungen 13/7 30 Watt“. „Die ist bestimmt aus dem Krieg. Wahnsinn.“

Vorsichtig liefen sie in den Gang hinein, bis sie an einer Stelle angelangten, an der der Tunnel eingestürzt war. Doch was auf den ersten Blick wie ihre Endstation aussah, entpuppte sich nur als eine eingebrochene Seitenwand. Nach oben wirkte alles stabil, und dass Jacken und Hosen staubig wurden, war egal.

„Hast du ‚Zurück in die Zukunft‘ gesehen?“

„Mehrmals.“

„Wo der seine Eltern verkuppeln muss, und dafür in die Vergangenheit reist – genauso komm ich mir vor. Gleich laufen Flüchtlinge mit altmodischen Koffern oder Rucksäcken aus Pappe vor uns lang.“

„Nee, mehr wie ‚Deep Space Nine‘. Wir sind in einem Raum-Zeit-Kontinuum gefangen.“

Sie kletterten über den Schuttberg und standen etwas später an einer Abzweigung. Auf der einen Seite leuchteten die Scheinwerfer eines Zugs. Weit weg, aber deutlich zu sehen. Licht! Es war, als würde die Sonne aufgehen. Kurz konnten sie mehrere Schienenstränge erkennen, die erst parallel nebeneinander herliefen und dann in unterschiedlichen Röhren verschwanden. Was für eine Erleichterung dieses Licht war. Und was für eine Enttäuschung, als es sich langsam entfernte und die Dunkelheit tiefer als zuvor erschien.

Sie beschlossen, in Richtung des Lichts zu laufen, die niedrige Betondecke ging bald in ein höheres Gewölbe über, wie ein Viadukt mit gemauerten Bögen ausgestattet und statt auf matschiger Erde liefen sie auf Steinplatten.

„Wir müssten jetzt direkt unter dem Anhalter Bahnhof sein.“

Eine weitere Abzweigung. Als sie um die Ecke guckten, rauschte eine S-Bahn vorbei. Sie konnten den Menschen ins Gesicht sehen, die in den Wagen saßen.

„Walla, hat die einen Sog! Ich dachte, ich werd auf die Gleise geschleudert. Die ist mindestens 70 gefahren.“

„Da hinten ist der Bahnsteig. Zur Not können wir da raus. Gehen wir in die andere Richtung?“

Matteo nickte und während sie sich vom S-Bahnhof entfernten, tauchten immer weitere Abzweigungen vor ihnen auf. Zur Sicherheit legten sie bei jeder Richtungsänderung ein paar Steine zu einem improvisierten Pfeil zusammen.

„Wie bei Hänsel und Gretel, so finden wir zurück.“

Dann endete ihr Weg abrupt vor einer schweren Eisentür. Sackgasse. Aber die Tür hing nur noch in einer Angel. Mit Mühe quetschten sie sich durch. Und standen in einem Raum, drei Meter breit, vier Meter lang. Ein Tisch aus Holz. Nackte Wände. Ein Graffiti auf dem Tisch. Laura las vor. „Kilroy was here 5/27/45“.

„Kilroy? Nie gehört. Aber die Amis schreiben zuerst den Monat und dann den Tag. 27. Mai 1945. Drei Wochen nach der Kapitulation.“

Sonst war der Raum leer. Kein Schatz, kein Tresor, kein gar nichts.

„Okay, das war’s. Oder? Lass uns mal zurück für heute. Ich will hier auch langsam mal echt raus.“

Enttäuscht machten sie kehrt.

„Müssen wir hier rechts oder links? Wir haben doch eine Markierung gemacht, oder?“ Matteo blickte ratlos zu Laura, die auf dem Boden nach ihrem Pfeil suchte. Dann war ihr Akku leer. „Mann, wieso hast du keine richtige Taschenlampe dabei?“ „Hab ich doch.“ Sie zeigte auf ihr Handy. „Du hättest auch selber dran denken können.“ Matteo fummelte sein Telefon aus der Hosentasche, das Display leuchtete schwach, zu schwach, um den Pfeil aus Steinen zu sehen. Ein Warnton machte auf die Nachricht „Nur noch wenig Akku. In den Energiesparmodus wechseln?“ aufmerksam.

Der Raum war leer. Kein Schatz, kein Tresor, kein gar nichts. Enttäuscht machten sie kehrt

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de