Boko Haram ist nicht besiegt

NIGERIA Auf der Flucht vor Soldaten sollen Islamisten Hunderte Geiseln genommen haben. Eine Ohrfeige für den Präsidenten, der schon die Schulmädchen von Chibok nicht rettete

„Boko Haram sagte, es seien Sklaven, die ihnen gehören“

EINWOHNER VON DAMASAK

VON DOMINIC JOHNSON

BERLIN taz | Die islamistische Untergrundarmee Boko Haram im Nordosten Nigerias ist offenbar doch nicht so zerschlagen, wie es die Siegesmeldungen des nigerianischen Militärs in den letzten Wochen glauben machen sollten. Wie Journalisten im Ort Damasak am Dienstag von Einwohnern erfuhren, nahmen die Islamisten dort mehrere hundert Geiseln, bevor sie sich Mitte März nach schweren Kämpfen in die umliegende Savanne zurückzogen. „Sie nahmen 506 junge Frauen und Kinder mit“, zitierte die Nachrichteagentur Reuters am Mittwoch einen Bewohner von Damasak. „Davon töteten sie etwa 50, bevor sie den Ort verließen. Wir wissen nicht, ob sie später noch mehr töteten, aber sie nahmen den Rest mit. Boko Haram sagte, es seien Sklaven, die ihnen gehören.“

Damasak liegt im Nordosten von Nigeria rund 30 Kilometer von der Grenze zu Niger entfernt. Boko Haram hatte den rund 15.000 Einwohner zählenden Ort ebenso wie andere in dieser Gegend im vergangenen November eingenommen und bedrohte von dort aus Niger, dessen Grenzstadt Diffa mehrmals Ziel von Angriffen wurde. Nachdem Boko Haram am 6. März seinen Beitritt zum Islamischen Staat (IS) verkündete, startete eine gemeinsame Eingreiftruppe von 2.000 Soldaten aus Tschad und Niger eine Großoffensive, um dieses Grenzgebiet unter Kontrolle zu bekommen. Nach tagelangen Gefechten und Luftangriffen verkündeten die Interventionstruppen am 18. März die Einnahme von Damasak.

Dass Boko Haram hier besonders heftig gewütet hatte, erwies sich bereits nach wenigen Tagen, als die Interventionstruppen nach eigenen Angaben an einer Straße unter einer Brücke zwischen 70 und 100 bereits teilverweste Leichen fanden – mutmaßlich Opfer eines Massakers. Nun kommt die mögliche neue Massengeiselnahme dazu.

Für Nigerias Armee wäre dies besonders peinlich, weil die letzte große Massengeiselnahme durch Boko Haram – die Entführung von 279 Schulmädchen aus einem Internat im Dorf Chibok in der Nacht zum 15. April 2014 – bis heute nicht aufgeklärt ist. Von 219 der Mädchen fehlt bis heute jede Spur, trotz globaler Kampagnen unter dem Namen „Bring Back Our Girls“ und trotz wiederholter Beteuerungen des Präsidenten Goodluck Jonathan, sie zu retten. Jonathan stellt sich am kommenden Samstag zur Wiederwahl, und sein Scheitern in der Chibok-Affäre hat ihn schlecht aussehen lassen. Wenn zu den 219 Chibok-Geiseln nun noch 450 aus Damasak dazukommen, untergräbt das auch Jonathans Wahlkampfbehauptung, der Krieg gegen Boko Haram sei so gut wie gewonnen.

Die jüngsten Erfolge gegen Boko Haram verdankt Nigerias Militär ohnehin nicht so sehr der eigenen Kraft, sondern den Eingreiftruppen aus Tschad, die seit Anfang Februar erst in Kamerun und dann in Nigeria zahlreiche von den Islamisten gehaltene Orte zurückerobert haben. Im an Kamerun angrenzenden Teil Nordostnigerias arbeitet Tschad dabei mit Kamerun zusammen, im an Niger angrenzenden Teil mit Niger – die Zusammenarbeit mit Nigeria hingegen lässt offenbar zu wünschen übrig. Berichten zufolge hat Nigeria mehrfach Bitten Tschads abgelehnt, Boko Haram noch tiefer nach Nigeria hinein verfolgen zu dürfen.

Nach der Eroberung von Damasak durch die tschadisch-nigrischen Eingreiftruppen weigerte sich Nigerias Armee jüngsten Berichten zufolge, die Kontrolle über den Ort zu übernehmen, damit die Eingreiftruppen die fliehenden Islamisten verfolgen könnten. Wäre das anders gelaufen, hätte sich Boko Haram nicht außerhalb von Damasak neu aufstellen können, und ihre neuen Geiseln wären vielleicht schon wieder frei.