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Gefangene der Kälte

Die Mechanismen des Lebens und des Sterbens: Warlam Schalamows Erzählungen erschaffen eine Physiognomie des Grauens. Gleichzeitig verstören sie durch ihre Schönheit

VON WIEBKE POROMBKA

Manche Lager an der Kolyma waren noch nicht einmal von Stacheldraht umgeben. Die Kälte in dieser Landschaft im äußersten Nordosten Sibiriens ist so unerbittlich, und die Entfernungen sind so unendlich groß, dass ein Fluchtversuch für einen Gefangenen den sicheren Tod bedeutet hätte. Auf schauerliche Weise gingen während des stalinistischen Terrors die Grausamkeit von Natur und die Grausamkeit des politischen Systems hier Hand in Hand und bedeuteten für Millionen von Menschen ein Martyrium, das jede Vorstellungskraft übersteigt.

Achtzehn Jahre hat der russische Autor Warlam Schalamow in sowjetischen Gefängnissen und Lagern verbracht. Vierzehn davon in der sibirischen Kolyma. Was man über diese Zeit in dem Erzählungsband „Durch den Schnee“ lesen kann, verleiht dem Unvorstellbaren eine eisige Klarheit. Erklärungen liefert es nicht.

Er wolle, so Schalamow, über „einige Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens unter bestimmten Bedingungen“ sprechen. Dokumentarprosa nennt er sein Schreiben deshalb, und was er auf diese Weise erschaffen hat, könnte man eine Physiognomie des Gulag nennen, in der mit seismografischer Genauigkeit die Regeln und Mechanismen des Lebens und Sterbens in den sibirischen Straflagern freigelegt werden.

Nicht mehr als drei Wochen braucht es nach Schalamow, bis ein Mensch durch Hunger, schwere Arbeit, ständige Schläge, vor allem aber durch die gnadenlose Kälte zu einem Wesen gemacht worden ist, das weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft hat und das zu Gefühlen nicht mehr fähig ist. „Der Frost, derselbe, der die Spucke in der Luft gefrieren ließ, ergriff auch die menschliche Seele. Wenn die Knochen einfrieren konnten, konnte auch das Hirn einfrieren und stumpf werden, konnte auch die Seele einfrieren. Im Frost konnte man an nichts denken.“

Was bleibt, ist der Instinkt. Ein Instinkt, der die Gefangenen am letzten bisschen Leben festhalten lässt. Dieser Überlebenswille – die Pferde sterben in den Lagern eher als die Menschen – wird für Schalamow nicht nur zum Merkmal des Menschseins. Viel mehr noch zeigt sich in ihm eine Unmenschlichkeit, die sich gegen die Mitgefangenen genauso wie gegen sich selbst richtet. Unmenschlich ist, was Menschen auszuhalten imstande sind.

Gerade in der distanzierten Sachlichkeit, mit der Schalamow beschreibt, wie eben Gestorbenen die Kleidung vom Leib gerissen wird, wie Leichen ausgegraben werden, in der Hoffnung, noch ein wärmendes Hemd an ihnen zu finden, und wie bei alledem ein quälender Hunger die Gefangenen zu delirierenden, wankenden Gestalten werden lässt, zeigt die absurde Gewalt eines Systems, das im Namen der kommunistischen Utopie zu einer riesigen Vernichtungsmaschinerie geworden ist. Dass die Grausamkeiten, die Schalamow eigentlich so nüchtern beschreibt, immer wieder eine poetische Strahlkraft entfalten und dass gerade die Natur in ihrer frostig geschliffenen Schönheit ins Bild gesetzt wird, macht das Verstörende, aber auch den literarischen Rang dieses Erzählers aus.

Bis zu seinem Tod 1982 hat Schalamow daran festgehalten, dass er seine Texte nicht in den Dienst einer politisch-moralischen Aufarbeitung der Verbrechen des Sowjetsystems stellen will. 1956 äußert er sogar öffentlich, die „Erzählungen von Kolyma“ seien längst vom Leben überholt worden. Dieser zuweilen fragwürdige Umgang mit seinem Werk hat nicht nur zum Zerwürfnis mit Alexander Solschenizyn geführt, sondern war neben innersowjetischen Zensurmaßnahmen vermutlich der Grund dafür, dass Schalamow bis heute außerhalb des russischen Sprachraums kaum bekannt geworden ist. Diese politischen und biografischen Hintergründe von Schalamows Schreiben kann man in einem Sonderheft der Zeitschrift Osteuropa nachlesen, das ebenfalls pünktlich zum 100. Geburtstag des 1907 geborenen Dichters erschienen ist.

Dass der Band mit Erzählungen aus Kolyma den Auftakt zu einer insgesamt fünfbändigen Werkausgabe von Schalamow bildet, ist eine späte, aber umso notwendige Anerkennung eines Autors, den man zweifelsohne in eine Reihe stellen muss mit Imre Kertész, Primo Levi oder Jorge Semprún und ihren Versuchen, sich an das selbst durchlittene Trauma des 20. Jahrhunderts heranzuschreiben.

Wie der Band, so heißt auch die erste, knapp zweiseitige Erzählung Schalamows „Durch den Schnee“. Sie beschreibt vielleicht am besten die Wirkung seiner Texte. Mühsam treten einige Männer einen Pfad durch die unberührte Schneelandschaft Sibiriens und machen zugänglich, was unsichtbar und abgedämpft durch die weißen, eiskalten Massen verborgen war: Die Auseinandersetzung mit dem Gulag spielt in Westeuropa noch immer eine untergeordnete Rolle. In Russland allerdings – auch das kann man in dem Sonderheft Osteuropa nachlesen – sind Schalamows Erzählungen gerade wieder von den Lehrplänen der Schulen gestrichen worden. Man lässt dort lieber wieder sozialistischen Realismus lesen.

Warlam Schalamow: „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I“. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2007, 342 Seiten, 22,80 Euro Manfred Sapper, Volker Weichsel, Andrea Huterer (Hg.): „Das Lager schreiben. Varlam Schalamov und die Aufarbeitung des Gulag“. Berlin 2007 (Osteuropa, 57. Jahrgang, Heft 6, 2007), 440 Seiten, 24 Euro

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