: Wo geht es nach Bad Langensalza?
FLUCHT Ausgerechnet Thüringen ist ihr Ziel. Wie drei Freunde ihre syrische Heimat verlassen
■ Online: Amjad, Iyad und Osama haben ihre Flucht dokumentiert. Vor allem Amjad filmte und fotografierte die Reise bis nach Thüringen mit seinem Smartphone. Aus dem Material haben Svenja Bednarczyk, Sebastian Erb, Johannes Gernert und Rieke Havertz für taz.de diese Multimediareportage produziert: taz.de/dreisyrer.
■ Die taz Panter Stiftung hat das Projekt finanziell unterstützt.
AUS BAD LANGENSALZA UND ATHEN JOHANNES GERNERT UND CHARLOTTE STIÉVENARD
Amjad fragt sich, wer übrig bleibt, wenn es alle machen wie sie. Wenn alle gehen. Dann sind da am Ende nur noch Assad und der Islamische Staat. Ein paar Stunden sind sie schon unterwegs. Sie fahren an der Stadt vorbei, in der sie aufgewachsen sind.
Tag eins, Syrische Wüste
Draußen vor den Fenstern des Kleinbusses ist es beige, Staub und Steine, eine ganze Weile schon. Sie haben sich verabschiedet, von Brüdern und Schwestern, von Vätern und Müttern. Auch von ihren Freunden und von den Kollegen im Restaurant am Ufer des Euphrats, mit denen sie vor ein paar Tagen noch ein gebratenes Lamm ausgeliefert hatten, auf Hügeln von Reis und Salat, unter Frischhaltefolie. Amjad hatte geholfen, die schwere silberne Platte zu tragen.
Sie packen keine Sachen, damit es nicht aussieht, als würden sie fliehen.
Drei Freunde verlassen ihr Land. Sie haben keine eigenen Familien, die ihnen den Aufbruch erschweren würden. Amjad, der Jüngste, ist seit sieben Monaten 18. Sein Bruder Iyad, ihr Anführer, in dessen Haar schon graue Strähnen schimmern, ist 24 genau wie Osama, der Entspannte, der nicht nur ihr Freund ist, sondern auch ihr Onkel. Sie wollen nach Deutschland, nach Thüringen, nach Bad Langensalza. Dort wohnt Osamas Bruder.
Wenn man mit dem Auto von al-Mayadin in der Syrischen Wüste in die Kurstadt Bad Langensalza im Unstrut-Hainich-Kreis fährt, ziemlich exakt in der Mitte Deutschlands, dann braucht man bei günstigem Verkehr etwa 41 Stunden. Es fallen Mautgebühren an.
Sie können natürlich nicht einfach mit dem Auto fahren. Wer in die EU hineinwill, muss beweisen, dass es ihm ernst ist. Sie brauchen 30.000 Euro, haben andere Flüchtlinge erzählt. 10.000 für jeden.
Tag zwei, bei Aleppo
In der Nähe der Stadt, in der der Krieg Iyads Archäologiestudium abbrach, müssen sie stoppen. IS und Regierungstruppen beschießen sich.
Ihr Ziel ist Bab al-Salam an der Grenze zur Türkei. Wenn jemand sie kontrolliert, sagen sie aber, sie seien auf dem Weg zum Hauptquartier, zur Regierung. Damit alle denken, sie seien Anhänger des IS.
Tag drei, Kilis
Sie erreichen die Türkei über die gefährlichste Passage, die von Schleusern kontrolliert wird. Amjad, Iyad und Osama. Für fünf Dollar kaufen sie eine Packung Marlboro. Hier dürfen sie wieder rauchen.
Es ist der 30. Juli 2014. Man kann das alles so genau erzählen, auch heute noch, weil Amjad, der Jüngste, mit seinem Smartphone Hunderte Bilder aufgenommen hat, Dutzende Videoclips, manche wie Selfies aus dem Urlaub, andere verwackelt wie Reportagen von der Front. Nur die bedrohlichsten Momente konnte er nicht festhalten. Als die Wellen ihr Schlauchboot in der Ägäis vom Kurs abdriften ließen, als die albanische Polizei schoss.
Von Kilis hinter der türkischen Grenze fährt man mit dem Bus etwa 20 Stunden bis nach Istanbul. Auch dort wohnt ein Bruder Osamas. Er hat ihnen eine Einzimmerwohnung gemietet. Am Abend schauen sie auf die Lichter der riesigen Stadt. Am nächsten Morgen gehen sie schwimmen, sie treiben in einem blauen Pool zwischen Hochhäusern.
Tag fünf, Istanbul
Alles ist wie Urlaub, nur liegt die Reise noch vor ihnen. Sie müssen jetzt warten, dass ihnen jemand von zu Hause Geld schickt. Ein Bruder will einen seiner Läden verkaufen.
Amjad sucht sich eine Arbeit. Freitags zieht er die rote Badehose an, setzt die Sonnenbrille auf und geht mit Freunden ans Meer. Sie rauchen Wasserpfeife, er angelt. Er macht Selfies. Wie in Syrien, nur kann er sie hier auf dem Smartphone lassen, und keiner wird ihn mit Waffen zwingen zu beweisen, dass die Frau auf dem Bild wirklich seine Mutter ist. Sie fahren mit Osamas Nichten und Neffen Achterbahn. In der Fabrik steckt Amjad in den Pausen mit Metallteilen die Initialen von Freundinnen zusammen. Syrien, meine Liebe, schreibt er. Die Wochen vergehen.
Istanbul ist voller Syrer, besonders in ihrem Viertel. Man hört es. Man erkennt es an den Rucksäcken. Auf den Straßen, in den Cafés kursieren Geschichten von den besten Reiserouten. Ursprünglich wollten sie fliegen, 10.000 pro Person. Aber fliegen, sagen jetzt viele, geht nicht mehr.
Jemand hat von der Familie erzählt, die es mit falschen Pässen fast bis an Bord geschafft hatte. Dann sprach bei der Ticketkontrolle eine Stewardess eines der Kinder mit dem Namen an, der in seinem Pass stand. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Das Kind reagierte nicht. Die Flucht war zu Ende.
Was sollen sie tun, wenn ihre Brüder daheim in Syrien das Geld doch nicht auftreiben?
Die Älteren schmieden einen Plan. Amjad muss versuchen, nach Saudi-Arabien zu gelangen, dort lebt ein Onkel. Die zwei Älteren werden nach Europa aufbrechen. Amjad gefällt der Plan nicht.
Dann, Amjad ist gerade auf der Arbeit, ruft Osama an. Drei Monate nach ihrer Abreise. Das Geld ist da.
Schwör es, sagt Amjad.
Ich schwöre, sagt Osama.
Schwöre bei deiner Ehre!
Ich schwöre bei meiner Ehre.
Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer eines Mehrfamilienhauses in Bad Langensalza steht eine Schale mit Mandarinen, Bananen und Orangen, darum herum Kaffeetassen und Plätzchen, Smartphones. Es ist der Samstag nach Weihnachten. Deutschland diskutiert über Pegida. An der Wand hängt das islamische Glaubensbekenntnis, gerahmt. Amjad trägt eine dunkelgraue Jogginghose, Iyad eine weinrote, Osama eine hellgraue, seit fünf Wochen sind sie in Deutschland. Auf dem Fernseher erscheinen die Stationen ihrer Reise, ein Notebookordner voller Bilder, wie Dutzende Postkarten. Drei Erschöpfte erzählen leise.
Tag 92, Izmir
Als sie die 1.100 Euro bezahlt haben und man ihnen ihre Nummer für die Überfahrt vom türkischen Izmir zur griechischen Insel Chios zugeteilt hat, sagt der Schmuggler, Schwimmwesten gebe es später. Sie sind die Einzigen, die noch keine haben.
Sie haben das Schwimmen im Euphrat gelernt und im Assadsee, in der Provinz ar-Raqqa, die jetzt dem IS gehört. Die Frage ist nur: Wenn sie irgendwann schwimmen müssten, wie lang?
Am Strand von Izmir können sie Griechenland auf der anderen Seite schon matt leuchten sehen. In einer Reihe kauern sie nebeneinander. Der Abend des 29. Oktober ist kalt. Sie haben Hunger. Sie dürfen nicht rauchen, damit niemand sie sieht. Amjad hilft, das Boot aufzupumpen. Ein junger Syrer, Anfang 20, soll es steuern.
Wenn sie euch vor der Küste kriegen, schlitzt das Boot auf, sonst bringen sie euch zurück, sagt der Schmuggler. Orientiert euch an den Lichtern.
Amjad, Iyad und Osama bleiben die Einzigen ohne Schwimmweste. Jemand leiht ihnen einen Rettungsring. Seine Angst behält jeder für sich. Als die Wellen immer größer werden, ein, zwei Meter hoch, und hart gegen den Rumpf klatschen, während das Boot sich aufbäumt, fängt Amjad an zu beten: Gott, rette uns!
Es dauert zwei Stunden bis zur griechischen Küste. Sie waten an Land, das Wasser bis zum Hals, das Boot ziehen sie neben sich her.
Völlig durchnässt laufen sie durch den Wald, ein, zwei Stunden, bis sie auf ein Polizeiauto treffen. Ein größerer Van kommt und fährt sie zum Revier. Die Beamten nehmen ihre Personalien auf. Dann bringt man sie in Wohnwagen, in denen sie sich ausruhen sollen.
Europa ist klamm und kalt. Es stinkt modrig. Aber sie haben es geschafft.
Auf dem Marmortisch des Athener Cafés stehen zwei Bier. Amjad hat eine dicke Winterjacke an und zieht an einer Wasserpfeife. Er scrollt durch die Fotos auf seinem Smartphone. Iyad ist zu sehen, mit langem Bart, auf einem Schiff vor dem azurblauen Meer Griechenlands, die Augen müde. „Sie haben mich gefragt, ob ich dem Islamischen Staat angehöre“, sagt Iyad, wieder frisch rasiert. Er, beim IS!
Ihre Flucht hatte viel früher begonnen in Syrien.
Im April 2012 liefert Iyad, die Haare noch nicht ganz so grau, wieder einmal Medikamente nach Damaskus, um die Revolutionäre zu unterstützen. Zurück zu Hause tauchen Männer von Assads Geheimdienst auf. Sie bitten seinen Vater, der 20 Jahre Soldat in der syrischen Armee war, seinen Sohn für zwei Stunden mitnehmen zu dürfen, nicht länger. Aus den zwei Stunden werden 16 Tage. Sie fesseln Iyad an Händen und Füßen. Nur seinen Kopf kann er bewegen. Er ist nackt. Es ist kalt in dem Keller, in dem er mit den anderen wartet. Mit einem Kabel schlagen sie ihn. Sie behaupten, er habe ein Haus angezündet. Jeden Tag fragen sie wieder: Hast du das Haus angesteckt? So ergeht es allen in dem Keller. Einer gesteht schließlich, damit die anderen freikommen.
Im August 2012 fotografiert Amjad, der Jüngste, in seiner Heimatstadt mit seinem Smartphone, wie der Geheimdienst schießt. Er und seine Freunde sind noch keine 18. Nach der Demonstration verstecken sie sich in einer Wohnung. Es klopft. Werft eure SIM-Karten weg, ruft jemand. Sie müssen sich auf den Boden legen und werden gefesselt. Die Männer suchen Waffen. Sie finden keine. Nach zehn Tagen Haft darf sein Vater ihn abholen. Wenn dein Sohn weiter mitmacht, nehmen wir dich fest, drohen sie ihm. Ich werde nicht aufhören, bis ihr verloren habt, denkt Amjad.
Im Januar 2012 geht Osama, der Entspannte, der gern Witze macht, nach einem Freitagsgebet in Damaskus auf eine Demo. Der Geheimdienst eröffnet das Feuer. Osama versteckt sich mit anderen in einer Moschee. Als nach einer Stunde keine Schüsse mehr zu hören sind, will er im Taxi nach Hause. Aber mehrere Geheimdienstler fangen ihn ab. Er muss sich ausziehen. Sie schlagen ihn. Allahu akbar!, ruft er. Gott ist groß. – Sag: Es gibt keinen Größeren als Baschar al-Assad, den Präsidenten, verlangen sie von ihm. Er sagt es. Er schämt sich noch heute. Nachts kippen sie Wasser über die Gefangenen. Osama versetzen sie einen Stromschlag. Sein Auge tut so weh, dass er Angst hat, er könne nie wieder sehen. Nach vier Wochen kauft sein Bruder ihn frei. 150.000 Lira. 3.000 Dollar. Heute wäre es nicht mehr so günstig.
Nachdem jeder von ihnen einmal festgenommen und gefoltert worden ist, gehen die drei nach al-Mayadin, wo die Rebellen Assad entmachtet haben. Iyad hat sein Archäologiestudium in Aleppo abgebrochen, Osama sein BWL-Studium in Damaskus, Amjad das Gymnasium. In al-Mayadin hat ein Bruder Iyads und Amjads ein Restaurant.
Tag 100, Busbahnhof Athen
Es ist noch ruhig in der großen Halle am Morgen des 4. November, drei Monate nachdem sie aufgebrochen sind. Riesige Leuchtschilder erhellen die leeren Bussteige und zeigen die Ziele an, Urlaubsorte: Korfu, Kalamata oder – Ioannina, eine Stadt an der albanischen Grenze.
Eigentlich wollten sie nach Mazedonien. Es heißt, man lande dort nicht so schnell im Gefängnis wie in Albanien. Nur gerade jetzt sind angeblich die Grenzkontrollen verschärft worden.
Jeder hat auf der Polizeiwache einen Zettel bekommen, der es erlaubt, sechs Monate in Griechenland zu bleiben. Den Zettel kriegen nur Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Für andere Migranten ist nach vier Wochen Schluss.
Amjad, Iyad und Osama haben die fünf Tage in Athen genutzt, um sich in einem chinesischen Supermarkt Schlafsäcke, Handschuhe, Regenjacken, lange Unterhosen, Mützen und Konserven zu kaufen. Mortadella, Käse, Brot, Datteln und Rosinen. Sie wollen sich durch die albanischen Wälder schlagen.
Im Bus nach Ioannina spricht die Hälfte der Gäste arabisch. Alle tragen warme Jacken, Turnschuhe und die schwarzen Rucksäcke, die es in der Arachnon-Straße in Athen gibt, wo man Unterkünfte findet, Schleuser oder gefälschte Pässe.
Iyad spielt im Bus einen Song der libanesischen Sängerin Fairuz laut auf seinem Smartphone ab. Es klingt melancholisch. In Syrien hat er Fairuz morgens in dem Restaurant in al-Mayadin aufgedreht. Bis einer der Ausländer vom Islamischen Staat kam und brüllte, sie sollten das Teufelspfeifen ausstellen. „So nennen sie Musik“, sagt er.
Al-Nusra, erzählen sie, war noch nicht so streng mit der Musik. Sie hatte ihr Hauptquartier gegenüber vom Lokal. Amjad stand an der Tür, Osama bediente, Iyad machte die Kasse.
Im Sommer dann übernahm der Islamische Staat al-Mayadin. Es waren vor allem Nordafrikaner aus Marokko, Ägypten, auch Iraker oder Chinesen. Ausländer jedenfalls. Die Syrer in der Gruppe schienen vor allem den Weg zu zeigen.
Wenn irgendwo ein Aschenbecher stand, ließen sich die IS-Männer sofort die zugehörigen Zigaretten aushändigen. Als Osama sich nachts in einem Nebenraum des Restaurants kurz zum Schlafen hingelegt hatte, kam einer vom IS und befahl ihm, sich lange Hosen anzuziehen, wie es sich gehöre.
Während der Bus von Athen aus Richtung Albanien fährt, bekommt Iyad eine Nachricht übers Smartphone. Eine Bombe ist neben dem Restaurant explodiert. Iyad schließt die Augen und versucht zu schlafen.
Tag 100, Ioannina
In Ioannina wollen sie Tickets für den Bus nach Kakavia besorgen, der Grenzstation vor Albanien. Ein Freund, der vorging, hat ihnen die Route empfohlen. Der Mann am Schalter will ihnen aber keine Fahrkarte verkaufen. Anordnung der Polizei. Migranten mit dem Sechsmonatszettel dürfen nicht mit dem Bus Richtung Grenze fahren. Die Taxifahrer sagen dasselbe.
Also brauchen sie doch wieder einen Schleuser. Das hatten sie eigentlich vermeiden wollen. Ihr Geld wird langsam knapp.
Ihr Freund hat ihnen von einem Nigerianer erzählt. Der sei einer der größten in Ioannina und arbeite mit einem Sudanesen oder Somalier. Sie teilen sich für die Suche auf. Als es schon dunkel wird, meldet sich Iyad bei den anderen: Er hat das Hotel des Nigerianers gefunden, der komme aber erst gegen neun Uhr abends wieder. Und es gibt einen Marokkaner, der für 100 Euro ein Taxi zur Grenze organisieren kann. Trotzdem wäre es gut, mit dem Nigerianer zu sprechen, damit er ihnen für Albanien einen Schleuser empfiehlt.
Im Hotel warten sie. Iyad raucht eine Zigarette nach der anderen. Er hat sich in jedem Land eine neue Prepaidkarte für sein Handy besorgt. Er musste lernen, mit Schleusern zu verhandeln. „Ich verlasse mich kein bisschen auf die“, sagt er jetzt. „Die meisten sind Junkies und würden dich für zehn Euro umbringen.“
Plötzlich schreit jemand im Hof. Yallah, yallah! Das Taxi. Sie packen ihre Rucksäcke und rennen los. Zehn Minuten später sind sie wieder im Hotel. Der Taxifahrer wollte sie schon 20 Kilometer vor der Grenze rauslassen. So war das nicht ausgemacht. Sie handeln den Preis mit dem marokkanischen Schleuser auf 75 Euro herunter.
Zwischen den Blumen im Hof warten sie auf das neue Taxi, auf den Nigerianer. Als klar ist, dass niemand mehr kommen wird, gehen sie schlafen.
Nachts lärmt der marokkanische Schleuser im Hotel. Er ist betrunken, er hämmert an die Türen. „Willst du mit meiner Freundin hier sprechen“, fragt er, lächelt und zeigt auf eine junge Frau mit langem schwarzem Haar neben ihm.
Die Sonne scheint. Statt im Hotel zu warten, gehen sie am nächsten Tag am See zwischen den Bergen spazieren. Stilles Wasser, Tauben am Uferweg. Iyad wirkt ruhiger. Er lächelt und beobachtet einen Angler. Zum ersten Mal, seit sie die Türkei verlassen haben, fühlt er sich gut, sagt er. Amjad lässt Fairuz auf dem Smartphone laufen. „Ich liebe Damaskus und den Himmel über meiner Heimat“, singt sie.
Osamas Telefon klingelt. Bad Langensalza. Sein Bruder ist dran. Wie weit habt ihr es geschafft?
Sie wissen nicht viel über Deutschland. Sie wissen, dass Frauen das Land nach dem Krieg aufgebaut haben, was sie gut finden, und dass man Arbeit finden kann da. Sie haben vom Oktoberfest gehört. Sie wissen noch nicht, was eine Erstaufnahmeeinrichtung ist und wie die Zäune darum herum aussehen.
Sie beschließen, dass sie von Kakavia aus über die Grenze laufen werden. Eine Karte mit der Route haben sie auf einem Smartphone gespeichert.
Tag 102, hinter der albanischen Grenze
Nach sechs Stunden Fußmarsch kommen sie an eine Polizeiwache. Sie sind eine Gruppe von zehn Syrern. Die ersten beiden kommen durch. Als Amjad, Iyad und Osama vorbeischleichen, werden sie entdeckt. Amjad rennt. Iyad und Osama werfen sich auf den Boden. Die Polizisten schießen in die Luft. Wir sind aus Syrien!, rufen Iyad und Osama. Wir sind aus Syrien!
Wo ist der andere?, fragen die Polizisten.
Amjad, der Jüngste, versteckt sich im Gebüsch.
Komm raus!, rufen die Älteren.
Rennt!, brüllt Amjad. Rennt weg! Er weint.
Einen Tag vorher, das haben sie von anderen Flüchtlingen gehört, sind 50 Syrer von hier zurückgeschickt worden. Es ist vorbei, denkt Amjad.
Komm raus!, schreit Iyad.
You can buy money with us, sagen die Polizisten.
Sie zahlen 400 Euro. Dann dürfen sie weiter.
Tag 105, in den albanischen Wäldern
Die Nächte sind eiskalt. Auch das Zelt, das Amjad auf einem seiner Streifzüge durch die Umgebung gefunden hat, hilft kaum. Sie kauern sich hinein. Der Boden ist steinig. Sie können nicht schlafen. Aber es ist das Beste, was ihnen jetzt passieren kann.
Morgens, in Schlafsäcke eingemümmelt, essen sie Rosinen und schauen auf die grünen Wiesen, die Hügel. Dann laufen sie, bis es dunkel wird. Sechs Tage lang.
Sie sollen bis zu einer großen Antenne gehen, hat der Schleuser gesagt. Nur sind sie sich irgendwann nicht mehr sicher, ob sie noch auf dem richtigen Weg sind. Schließlich finden sie die Antenne. Sie rufen den Schleuser an und verhandeln über den Preis für eine Fahrt zur nächsten Grenze, nach Montenegro.
In Montenegro werden sie registriert, man nimmt ihnen Fingerabdrücke ab.
Ihr letzter Fußmarsch führt über die serbische Grenze nach Ungarn.
Tag 115, bei Wien
Es sind nur noch ein paar Hundert Kilometer bis Bad Langensalza. Für die Fahrt nach Deutschland vereinbaren sie 4.000 Euro, für alle drei. Sie werden am Ende nur 1.500 zahlen. Insgesamt, schätzen sie, haben sie 6.700 Euro für Schleuser ausgegeben. Ein guter Preis. Sie sind viel gelaufen.
An einer Tankstelle muss der Fahrer ihres kleinen Busses halten, weil der Sprit sonst nicht reicht. Ein Streifenwagen nähert sich. Die Polizisten steigen aus. Papiere, bitte.
Wieder einmal denkt Amjad, das jetzt alles vorbei ist. Ihr Traum. Fast hätten sie es bis ans Ziel geschafft, nach Deutschland.
Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten, sagen die Polizisten später auf dem Revier: Wir schicken euch zurück. Oder ihr stellt einen Asylantrag. Dann müsst ihr aber hierbleiben.
Dublin II heißt die EU-Verordnung. Zuständig ist immer das Land, in dem der erste Asylantrag gestellt wird. Und nur das. Die drei beschließen, dass sie trotzdem nach Deutschland fahren. Sie sind in Österreich ja nicht eingesperrt. Die letzte Grenze vor ihnen ist frei.
Osamas Bruder ist gerade auf Spätschicht in der Reifenfabrik, als sein Handy klingelt. Kannst du uns abholen?
Tag 119, Autobahndreieck Kirchheim, ein Parkplatz
Am 23. November um 0.40 Uhr umarmen sich Osama und sein Bruder. Habibi, sagt der Bruder. Er klopft Osama auf die Schulter. Er küsst ihn auf die Wange. Habibi. Amjad filmt.
Amjad, Iyad und Osama sitzen auf der langen Eckcouch im Wohnzimmer in Bad Langensalza. Sie tragen Jeans und Pullover. Fotos von Osamas Eltern und ein gemaltes Bild von der Wüste hängen an der Wand. Iyad hat seinen Arm um Amjad gelegt, der Clips auf seinem Smartphone abspielt. Schnee in Thüringen, Tanzen in der Flüchtlingsunterkunft, ulkige Nonsensvideos. Sie lachen, dass es sie schüttelt.
Amjad erzählt von jenem Moment Ende Juli, als sie an ihrer Heimatstadt vorbeifahren und nicht anhalten können. Er hat Tränen in den Augen. Er ist jetzt 19. Iyad 25, Osama auch.
Eines Tages, sagt Amjad, werde ich zurückgehen, mein Land wiederaufbauen. Stein für Stein.
Am 6. März erreicht ihn ein Einschreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Deutschland erkennt ihn an.
■ Johannes Gernert, 34, ist Redakteur der taz.am wochenende. Er besuchte Amjad, Iyad und Osama mehrfach in Bad Langensalza und ließ sich ihre Geschichte erzählen
■ Charlotte Stiévenard, 28, ist freie Reporterin in Griechenland. Sie traf die drei in Athen und begleitete sie bis zur Grenze Albaniens
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