„Bürgertum braucht die Verzweiflung“

Christian von Borries und Catherine Sullivan inszenieren an der Volksbühne eine „Operavision“ von Bergs „Lulu“

Der Dirigent und Komponist Christian von Borries inszeniert gemeinsam mit der amerikanischen Videokünstlerin Catherine Sullivan an der Volksbühne ein Stück über Alban Bergs Oper „Lulu“. In ihrer „Operavision“ mit dem Titel „Lulu oder wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung“ spielen Orchestermusiker auf der Bühne, während Szenen aus G. W. Pabsts Film „Die Büchse der Pandora“ zu sehen sind.

taz: Herr von Borries, was ist eine „Operavision“?

Christian von Borries: „Operavision“ ist ein technisches Wort für die Übertitelung von Opern. Wird eine Oper auf Italienisch gespielt, übersetzt man den Text in die Landessprache. Mir hat das Wort gut gefallen, weil es einerseits Oper, andererseits Sichtbarkeit bezeichnet. Unser Stück ist ein Kommentar zum Genre Oper und insofern eine Vision dessen, wie es damit weitergehen kann. Denn da laufen keine Sänger mehr auf der Bühne herum, und es ist kein Bühnenbild vorhanden.

Die Musik Ihres Stücks basiert auf Alban Bergs Oper, die Bilder auf Pabsts „Büchse der Pandora“. Beide haben ein Stück Frank Wedekinds als Vorlage. Wie kam es zu der Idee, das zu kombinieren?

Zu diesem Stummfilm gibt es so eine 08/15-Stummfilmmusik. Ich habe den Ton ausgeschaltet und mir die Alban-Berg-Oper dazu angehört. Es ist dieselbe Geschichte, und beide sind um 1930 entstanden. Was heute unvorstellbar ist: Der Opernschreiber sitzt in Wien, der Film entsteht in Berlin, das passiert parallel, ohne dass sie voneinander wissen. Das gefällt mir sehr gut. Die Sachen passen sehr gut zusammen, sind aber nicht synchron. Das eine ist eine Geschichte in Bildern, das andere ist eine Geschichte in Tönen. Diese Geschichten haben ein Eigenleben und eine eigene Logik.

Wie verwenden Sie diese Geschichten?

Es gibt bestimmte Aspekte der Musik, die ich stark machen möchte. Da sitzt also ein Orchester auf der Bühne und spielt im Prinzip erst einmal nur Alban Berg, wie es im Film erst einmal nur Bilder aus „Die Büchse der Pandora“ gibt. Aber für Catherine Sullivan und mich ist ganz klar: Wenn ich mich mit einer historischen Vorlage beschäftige, muss ich mich mit der Geschichte dieser Vorlage beschäftigen. Und irgendwann ist es vielleicht sogar so, dass ich mich nur noch mit ihrer Geschichte beschäftigen kann.

Was geschieht mit der Filmvorlage?

Louise Brooks, die Hauptdarstellerin des Films, ist eine merkwürdige Ikone des 20. Jahrhunderts, durch ihre extreme Wiedererkennbarkeit, durch ihre Frisur, durch die Art, wie sie gespielt hat. Allerdings war sie nach der Zeit bei Georg Wilhelm Pabst weg vom Fenster. In den Siebzigerjahren, am Ende ihres Lebens, besuchte sie der englische Theaterkritiker Kenneth Tynan, daraus entstand ein merkwürdig libidinöses Verhältnis. Tynan ist nach ihrem Tod als Dragqueen mit Louise-Brooks-Perücke herumgelaufen. Diese Szenen hat Catherine Sullivan, in ihrer merkwürdigen Art zu filmen, nachgedreht. So gibt es einen Schauspieler, der Kenneth Tynan mit Louise-Brooks-Perücke spielt. Gleichzeitig ist er aber auch Jack the Ripper, der Louise Brooks als Lulu im alten Film umbringt.

Wie verfahren Sie mit der Musik?

Das Orchester ist komplett mit Mikrofonen abgenommen. Wir haben also die Möglichkeit, die Musik aufzunehmen und wieder einzuspielen, sie in der Tonhöhe und in der Länge zu verändern, oder den Ort, an dem sie stattfindet. Wir können am Computer eine Akustik erzeugen, dass das Orchester plötzlich wie eine Aufnahme von 1920 klingt.

Was hat Ihre „Lulu“ mit Verzweiflung zu tun?

Lulu ist nur interessant, weil es das Theaterstück, den Film, die Musik und die komische Geschichte dieses Stoffs gibt. Das ist natürlich eine bürgerliche Geschichte. Das Bürgertum ist der einzige Aspekt, der mich daran interessiert, weil es derzeit ein Revival erlebt. Die Schmonzette, dieses komische Gefühl „Ich bin verzweifelt“ ist ein Rückzug aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die bürgerliche Gesellschaft braucht die Verzweiflung, damit man sich selbst noch spürt.

INTERVIEW: TIM CASPAR BOEHME