Die Not auf der Straße nimmt zu

SOZIALES Immer mehr Menschen sind im Winter auf Notunterkünfte der Berliner Kältehilfe angewiesen. In der vergangenen Saison stieg vor allem die Zahl der Flüchtlinge, die Hilfen in Anspruch nahmen

■ In Berlin leben Schätzungen zufolge zwischen 600 bis 3.000 Personen auf der Straße. Um ihnen im Winter einen Unterschlupf zu bieten und sie vor dem Erfrierungstod zu retten, wurde 1989 die Berliner Kältehilfe gegründet. Kirchengemeinden und Wohlfahrtsverbände betreiben das Angebot mit Unterstützung des Senats von Anfang November bis Ende März.

■ In Notübernachtungen und Nachtcafés können Menschen Unterschlupf finden. Aktuell gibt es rund 530 Übernachtungsplätze pro Nacht in 15 Notübernachtungen und 14 Nachtcafés. Die Nachtcafés haben allerdings nicht an allen Wochentagen geöffnet. Zudem stellt die Kältehilfe Beratungsstellen, Suppenküchen und Arztpraxen zur Verfügung. Ein Kältehilfetelefon dient Schutzsuchenden und besorgten Bürgern als Hotline.

■ Fallen die Temperaturen nachts unter minus 2 Grad, bleiben zudem drei U-Bahnhöfe dauerhaft geöffnet. (epd, taz)

VON GINA NICOLINI

Trotz des milden Winters ist die Zahl der Übernachtungen von Obdachlosen in Notunterkünften um 12 Prozent gestiegen. Diese Bilanz zogen Diakonie und Caritas auf einer Pressekonferenz am Montag. In der vergangenen Kältesaison vom 1. November bis zum 30. März kamen auf 532 verfügbare Schlafplätze im Schnitt 542 Übernachtungen. Das ist eine Auslastung von gut 102 Prozent.

„Das klingt vielleicht wenig“, erklärte Johannfried Seitz-Reimann vom Kältehilfetelefon, das sich um die Verteilung der Schlafplätze an die Obdachlosen kümmert. „Tatsächlich aber hatten wir einen milden November und Dezember, sodass viele auf der Straße bleiben wollten. Im sehr kalten Februar lag die Auslastung dann bei 111 Prozent.“

In Berlin gibt es rund 13.000 Wohnungslose; die meisten sind in Heimen untergebracht. Die Zahl der Obdachlosen, die dauerhaft auf der Straße leben, ist nicht bekannt. Schätzungen schwanken zwischen 600 und 3.000.

Am Wochenende zu

Auffällig in der vergangenen Saison sei die steigende Zahl von Flüchtlingen, die bei der Kältehilfe Unterschlupf suchen, sagte Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin. Nach Angaben des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) kamen im März gut 1.200 Flüchtlinge nach Berlin. Im Februar waren es knapp 1.700 Menschen gewesen, vor allem aus dem Kosovo und Syrien. „Es darf nicht sein“, so Kostka, „dass die Kältehilfe als Ausfallbürge für das Land Berlin einspringen muss, weil die zuständige Behörde am Wochenende geschlossen ist.“

Dies sei ein strukturelles Problem, heißt es dazu vonseiten des Lageso – übersetzt bedeutet das, das Amt hat zu wenige Mitarbeiter und Kapazitäten. Ein Wochenenddienst in dem Landesamt stehe derzeit nicht zur Debatte.

„Ohne Ehrenamtliche müssten wir unsere Arbeit einstellen“

ULRIKE KOSTKA, CARITAS

Die häufige Überbelegung der Notunterkünfte ist nicht die einzige Herausforderung: Häufig sei man laut Kostka mit Gästen konfrontiert, die besondere Pflege und Versorgung benötigen. „Viele sind verwahrlost, ihre Situation ist kritisch, sowohl psychisch als auch physisch“, erläuterte Barbara Eschen, Direktorin des hiesigen Diakonischen Werkes. „Die Notschlafstellen können die medizinische Versorgung dieser Menschen nicht gewährleisten.“ Sie forderte den Senat und die Bezirke auf, zusätzliche Notschlafplätze für kranke Obdachlose zu schaffen.

Bisweilen suchen selbst komplette Familien eine Notunterkunft auf, rund 200 Übernachtungen zählte die Kältehilfe im vergangenen Winter. Für sie fehle ein Konzept, so Eschen: „Das Jugendamt sieht vor, die Kinder getrennt von ihren Familien unterzubringen. Das darf nicht sein.“

Finanziert wird die Berliner Kältehilfe vom Senat. Der an die Träger erstattete Tagessatz pro Person und Übernachtung liegt allerdings lediglich bei 15 Euro. Benötigt werden aber laut der Kältehilfe mindestens 36 Euro. Außerdem werden nur die offiziell eingerichteten 532 Schlafplätze bezahlt. Für jede Überbelegung zahlt die Kältehilfe drauf. „Ohne Spenden und die ehrenamtliche Arbeit vieler ÄrztInnen und BetreuerInnen müssten wir unsere Arbeit einstellen“, sagte Kostka.