die taz vor 18 jahren über hybris und fehler der spd nach dem fall der mauer
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Große historische Augenblicke wirbeln bekanntlich leicht große Worte auf. Zumal auf einem Parteitag, der von vornherein die Revolution in der DDR zu einer großen Strategie der Sozialdemokratie erheben will. Doch es ist kein schneidenderer Widerspruch denkbar zwischen dem Triumphalismus, mit dem die DDR -Revolution kurzerhand in den Zusammenhang der sozialdemokratischen Tradition gestellt wird, und dem tatsächlichen Kopfschütteln und dem Aufstöhnen der Genossinnen und Genossen in den Wandelgängen über die Borniertheit der Bonner SPD-Führung gegenüber den Entwicklungen in der DDR. Nicht nur daß kaum ein Versuch unternommen worden ist, die Reformen innerhalb der SED und die realen Schwierigkeiten der Opposition zu analysieren, es wurde überhaupt der Prozeß der DDR-Revolution nicht ernsthaft zum Thema gemacht, er wurde gefeiert als längst schon in der Politik der sozialen Demokratie angelegter Sieg. Auch wenn es mit großer persönlicher Glaubwürdigkeit vorgetragen wird, nimmt ein Zitat von Brandt dem neutralen Beobachter den Atem: „Im Revolutionsjahr 1989 drängt nicht länger nur der sozialdemokratische Gedanke zur Wirklichkeit, es drängt nun auch die Wirklichkeit zum sozialdemokratischen Gedanken.“ Und Brandt setzte fort: „ … das noch Sperrige ist das Sperrfeuer von Ewiggestrigen.“ Mit größerem Hochmut ist wohl kaum ein Wahlkampf begonnen worden. Mit größerer Arroganz ist der DDR und der Entwicklung ihrer eigenen Geschichte die Autonomie noch nie abgesprochen worden. Wie ernst wird denn die DDR-Revolution genommen, wenn alles, was in ihr geschah und was noch kommt, nichts anderes sein soll, als daß die Wirklichkeit zum sozialdemokratischen Gedanken drängt. Auch wenn die SPD tausendmal bessere deutschlandpolitische Konzepte hat, in ihrem ungebremsten Triumphalismus konkurriert sie an dem Punkt doch mit der Wiedervereinigungsrhetorik von Kohl.

Klaus Hartung, taz 19. 12. 1989