Armut heißt jetzt Lebenslage

Wohlfahrtsverbände und Oppositionsparteien kritisieren, dass der vom Hamburger Senat veröffentlichte „Lebenslagenbericht“ die Lebensumstände armer Menschen nicht analysiert

VON ELKE SPANNER

Dass in Hamburg viele Menschen von staatlicher Unterstützung leben, war auch schon vor dem gestrigen Tag bekannt. Wie viele es genau sind – nämlich 206.123 –, ist nun aufgeteilt nach Altersgruppen im „Lebenslagenbericht“ des Senats nachzulesen. Viel mehr aber auch nicht. Die Wohlfahrtsverbände und Oppositionsparteien kritisieren deshalb, dass der Senat lediglich eine aktuelle Statistik erstellt habe, statt die Lebensumstände von Hartz-IV-Klienten, die Ursachen von Armut sowie das Ausmaß verdeckter Armut zu untersuchen. „Der Senat glaubt, das Problem der Armut im Griff zu haben, wenn er die Zahlen im Griff hat“, sagte Michael Edele von der Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. „Das sind aber zwei unterschiedliche Dinge.“

Nach langem Sträuben hatte sich Hamburgs Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) im Juli vergangenen Jahres dazu durchgerungen, den Lebenslagenbericht in Auftrag zu geben. Er listet auf 117 Seiten auf, wie viele Menschen in Hamburg von staatlichen Leistungen abhängig sind. Des Weiteren zählt der Bericht auf, welche Hilfsprojekte die Stadt finanziert. Fazit: „Hamburg hat im Großstädtevergleich gute Ergebnisse vorzuweisen.“

Hinsichtlich der Startchancen von Kindern stellt der Bericht zwar fest, dass maßgeblich für ihre Entwicklung das soziale Umfeld, die Wohnverhältnisse sowie der Schul- und Ausbildungsabschluss der Eltern seien. Dennoch findet sich kein weiteres Wort zu dem Problem der Kinderarmut, das etwa der Wochenzeitung Die Zeit schon im vergangenen Sommer ein mehrseitiges Dossier wert war – Überschrift: „Armutszeugnis für Hamburg“.

Begriffe wie „Armut“ oder „Unterversorgung“ tauchten gar nicht auf, kritisiert Dirk Hauer vom Diakonischen Werk: „Der Bericht ist ein Datensammelsurium, mit dem Armut eher verschwiegen wird.“ Wer Armut wirklich bekämpfen und vermeiden wolle, müsse „zuerst auch von Armut sprechen“, sagt Hauer. Michael Edele von der Freien Wohlfahrtspflege hätte es wichtig gefunden, beispielhaft einen Stadtteil herauszugreifen und sich im Detail anzusehen, wie die Menschen dort leben – vor allem die Kinder: „Man hätte fragen müssen, ob sie mal schwimmen gehen können und welche Schulen sie besuchen.“

Unter dem rot-grünen Senat waren in den Jahren 1992 und 1997 Armutsberichte für Hamburg erstellt worden, in denen die Lebensumstände derjenigen analysiert wurden, die auf staatliche Unterstützung angewiesen waren. Nach dem Regierungswechsel 2001, als die CDU mit Hilfe der Schill-Partei an die Macht gekommen war, verkündete Sozialsenatorin Schnieber-Jastram, weitere solcher Berichte seien nicht notwendig. Immer wieder beantragte die Opposition aus SPD und Grüne in der Hamburgischen Bürgerschaft die Erstellung eines Armutsberichtes, bis die Senatorin schließlich die Einrichtung eines „Daten- und Informationspools“ in Auftrag gab.

Noch schlechter als in Hamburg sieht es in Niedersachsen aus: Zwar legt dort das Landesamt für Statistik seit 1998 jährlich einen „Bericht über Entwicklung und Struktur von Armut und Reichtum in Niedersachsen“ und vergleichend dazu in Deutschland vor. Dabei handele es sich aber nur um eine vierseitige „Schmalspurversion“, sagt Heinrich Sydow, Parlamentarischer Referent für Sozialpolitik bei den niedersächsischen Grünen. Den letzten ausführlichen Armutsbericht hat demnach die damalige rot-grüne Landesregierung in Hannover 1998 vorgelegt.