Falsche Idylle

Schäfer auf der Schwäbischen Alb, ein Job in beschaulicher Umgebung. Doch der Eindruck trügt: Schäfer sind ganz allein mit ihrer harten Arbeit. Und so ist auch diese Geschichte eines Hirten nicht unbedingt eine Weihnachtsgeschichte. Keine klassische jedenfalls. Und sie schildert keineswegs eine Idylle. Landvermessung Teil acht

von Tiemo Rink

Walter Vogt (Name geändert) ist fünfzig Jahre alt und wohnt jetzt wieder bei Papa, im Untergeschoss. Ein weiß verputztes Eckhaus am Ortsausgang in einem Dorf bei Nürtingen. Im Vorgarten welken Rosenstöcke, am Wohnzimmerfenster klebt ein vergilbtes Weihnachtsbild: ein lachender Schäfer mit schwarzem Hut inmitten seiner Herde, darüber leuchten die Sterne. Gegen Mittag kommt Papa Vogt aus dem Obergeschoss, weckt seinen Sohn und sagt: „Dann wollen wir mal.“ Er steigt in den Offroader, und Walter Vogt, graue Locken unter grünem Filzhut, kratertiefe Falten in einem rötlich leuchtenden Gesicht, klettert auf den Beifahrersitz. Dann fahren sie hoch auf die Schwäbische Alb. Vogt hütet Schafe, bis abends, bis Papa ihn wieder abholt und nach Hause fährt.

Dreißig Jahre war Vogt verheiratet, vor einem Jahr die Scheidung, vor zwei Wochen die Verkehrskontrolle. Als die Polizisten ihn auf dem Nachhauseweg anhalten, hat Vogt 1,6 Promille im Blut. „Ich hatte den ganzen Tag wenig gegessen und meine sechs Bier getrunken. Die wollten sogar, dass ich meine Hunde im Auto lasse und zu Fuß nach Hause gehe. Das kann ich doch nicht machen.“

Abgeholt hat ihn seine Exfrau. Sie ist es auch, die ihn seitdem fast täglich auf die Alb fährt, „aber da geht nichts mehr zusammen zwischen uns beiden“.

„Love changes everything“, plärrt das Treckerradio, während Vogt über die Wiesen dümpelt. Seit mehr als dreißig Jahren pachtet er sie auf der Alb. An einem Hügel wartet die Herde, eingesperrt hinter einem Zaun. Kurz vor eins mittags, ein Kronkorken zischt. Vogt, geplatzte Adern auf der Nase, trinkt Bier. „Ich glaube nicht, dass ich zu viel trinke. Das ist erst das Zweite heute.“ Sein Atem riecht nach einer Lüge.

Der neue Schäferhund hat ihn gleich verlassen

Gebeugt nähert er sich dem Zaun, gestützt auf den Schäferstab, eine Hand im Kreuz. Vor sechs Jahren wurde er das letzte Mal an der Bandscheibe operiert. Die Schafe selber zu Hause zu schlachten kommt seitdem nicht mehr in Frage. „Man muss das Tier packen, mit einem Stromschlag betäuben, die Kehle durchschneiden und es an den Fleischerhaken hängen. Mit meinem kaputten Rücken schaff ich das nicht mehr“, sagt er. Jetzt kommt alle zwei Wochen ein Viehtransporter und holt die Tiere direkt von der Weide ab. Das ist zwar praktisch, lohnt sich aber kaum noch. 30 Euro bekommt Vogt jetzt weniger pro Schaf. Auf den Monat gerechnet ein Verlust von 600 Euro.

Um überhaupt über die Hügel der Schwäbischen Alb zu kommen, nimmt er täglich Schmerztabletten. Die greifen zwar den Magen an, dafür kann er einigermaßen gehen. Meistens. Bei seinem letzten Arztbesuch wurde ein Leistenbruch festgestellt, Zeit für die Operation hat er nicht. „Die Leute sehen dich hier in der schönen Landschaft und denken: Was für ein schöner Beruf. Den ganzen Rest sehen die nicht.“

Ohne Hunde kann kein Schäfer arbeiten. Je mehr er hat, desto besser. Bei Vogt werden es immer weniger. Zwölfhundert Euro zahlte er neulich an einen Züchter für einen ausgebildeten Schäferhund. Nach drei Tagen mit vielen Streicheleinheiten ließ ihn Vogt das erste Mal von der Leine: „Ich dachte, jetzt kennen wir uns, jetzt sind wir Freunde.“ Ein Irrtum, der Hund rannte in den Wald und kam nie zurück.

„Und letzte Woche ist dann Fritz gestorben. Mein Ältester, ganz friedlich ist er eingeschlafen.“ Nach vierzehn gemeinsamen Jahren wurde er blind, von einem Tag auf den anderen. So saß Vogt am Ende weinend in der Praxis, im Arm seinen toten Hund, auf der Schulter die tröstende Hand des Tierarztes.

Bonnie und Kira sind ihm geblieben: zwei altdeutsche Schäferhunde, schwarzes Zottelfell, viel kleiner als die Schafe, aber schneller und aggressiver. Winselnd und kläffend begleiten sie Vogt, als er Salz auf die Nachbarwiese streut. Lockspur und Leckerei für die Schafe, damit sie wissen, wo sie die nächsten Stunden hingehören.

Jede Menge Zeit für die Einsamkeit

Langsam kommt Bewegung in die Herde. Die Schafe drängen an den Zaun, noch bevor Vogt das Gatter geöffnet hat. Von hinten drücken die letzten, vorne brechen die ersten durch. „Bonnie, los“, ruft Vogt, doch Bonnie kommt zu spät. Ein kurzer kläffender Versuch, dann zieht Bonnie zurück.

Vogt flucht und lässt laufen. 600 Schafe überrennen den Zaun, eine stumpf blökende Stampede wälzt sich auf die Nachbarwiese und hinterlässt in Fließrichtung einen breiten Streifen platt getretenes Gras. Die Schafe ignorieren Vogt und verteilen sich auf der Wiese. Bonnie und Kira umkreisen die Herde und sorgen dafür, dass sie sich nicht zu weit verstreut. Für Vogt ist nun kaum noch was zu tun. Ab jetzt beginnt die Einsamkeit.

Bis vor Kurzem bekam er noch regelmäßig Besuch. Damenbesuch. „Ein Schäfer hat viel Zeit“, sagt Vogt. „Und einen Wohnwagen für die schönen Stunden hab ich auch.“

Als Wanderschäfer ist er früher oft wochenlang über die Schwäbische Alb gezogen. Seine Frau saß abends zu Hause und ahnte nichts. Vogt saß in seinem Wohnwagen und freute sich über die Frauen, die auf seine Zeitungsinserate antworteten. Zum Beispiel die Dessous-Verkäuferin aus Nürtingen, die oft mit dem Fahrrad auf die Alb fuhr, nichts von der Ehefrau wusste und über Nacht blieb.

Ein Glücksspiel, das irgendwann schiefgehen musste. Und schiefging, was dazu geführt hat, dass Vogt wieder bei seinem Vater wohnt. Die Dessous-Verkäuferin bleibt lieber in Nürtingen, statt auf die Alb zu fahren.

„Das hat doch alles keinen Wert mehr. Früher hatte ich meine Freiheiten, jetzt würde ich am liebsten alles hinschmeißen“, sagt Vogt und stützt sich auf den Schäferstab.

Am Waldrand tauchen vier Menschen auf und steuern auf die Herde zu. Zwei Paare im Rentneralter, offene Fleecejacken, frisch gefettete Wanderstiefel, fröhlich schnatternd. „Guten Tag, sind das etwa Merinoschafe?“, fragt eine gut gelaunte Seniorin. „Ja, die mit den klugen Gesichtern schon“, antwortet Vogt. – „Herrlich, das find ich wunderbar, die geben doch immer so prima Wolle, oder?“ – „Hmm“, brummt der Schäfer, die Frau strahlt ihn an, nickt ihm zu und sagt: „Dann wünsche ich noch einen schönen Tag. Einen tollen Job haben Sie hier.“ Die Gruppe zieht ab, dynamisch hacken die Walkingstöcke in die Wiese.

Hunde wetzen, Schafe blöken

Schafe sind nicht die klügsten Tiere. Als Vogt anfängt, den Zaun für die Nacht abzustecken, kommen sie angelaufen und bleiben am Zaun stehen. Gaffen statt grasen. „So eine Scheiße, alles total falsch gebaut, die ganze Anlage“, schimpft Vogt. „Zurück! Ihr sollt fressen!“ Wie ein zorniger Donnergott vertreibt er die Herde. „Psss, Bonnie“, ruft er – und Bonnie rennt bellend auf die Herde zu. Die ergreift die Flucht und kommt sofort zurück. Kira greift ein, Vogts Hände stechen Löcher in die Luft, die Hunde wetzen, Schafe blöken. „Mäh, mäh, mäh – ja, leckt mich doch am Arsch“, tobt Vogt. Vor der untergehenden Sonne steht ein fünfzigjähriger Mann mit Tränen in den Augen, schwankt leicht nach vorne und brüllt Schafe an. „Alles verkehrt jetzt, eine Scheiße ist das.“

Zwei Wutausbrüche später sind die Tiere im Gatter, fährt der Offroader nach Hause. Am Rückspiegel baumelt ein Stoffschaf. Auf der hinteren Sitzbank verschimmeln zwei Äpfel. Fruchtfliegen umschwärmen den süßlich stinkenden Apfelmatsch. Unter leeren Bierflaschen liegt ein Taschenbuch. Der Titel: „Schäfers Tod.“ Ein Krimi rund um einen Schäfer, der eines Morgens ermordet auf der Schwäbischen Alb gefunden wird, gepfählt vom eigenen Schäferstab. Ein Geschenk der Nürtinger Dessous-Verkäuferin – „gefreut hab ich mich da nicht“, sagt Vogt. Und öffnet ein Bier.