piwik no script img

War’s der Satan?

UNERKLÄRLICHES Sandro Veronesi schreibt mit „XY“ einen italienischen Bestseller über einen rätselhaften Massenmord im Schnee

Ein sehr metaphorisch aufgeladenes Setting ist es, das dieses Buch zu bieten hat. San Giuda heißt der Ort, in dem es spielt, ein kleines Dorf in den italienischen Alpen, so abgelegen, dass es dort keinen Handyempfang mehr gibt, und so in sich selbst versponnen, dass die wenigen Einwohner nur in oberflächlichem Kontakt mit der Außenwelt stehen. Sein Name, San Giuda, ist dem heiligen Judas gewidmet, der keineswegs identisch ist mit Judas, dem Verräter. Es handelt sich um Judas Thaddäus, gleichfalls ein Jünger Jesu, der in der katholischen Glaubenswelt als Schutzpatron der Verzweifelten verehrt wird. Doch so klein der Ort ist, gibt es dort doch eine Kirche und auch einen Pfarrer, Don Ermete, der sein Leben in den Dienst des heiligen Judas gestellt hat und der uns als einer der Erzähler dieser Geschichte entgegentritt.

Don Ermete ist auch einer der beiden Dorfbewohner, die unweit von San Giuda die bereits tief eingeschneiten Leichen von elf Menschen finden. Es handelt sich um einen einheimischem Touristenführer sowie zehn Touristen, die mit ihm auf einer Schlittentour gewesen waren. Wie sich im Zuge der folgenden Obduktionen herausstellt, wurde, was realistischerweise gar nicht sein kann, jedes Opfer auf andere Weise getötet; eine Frau ist laut Obduktionsbericht gar einer tödlichen Haiattacke zum Opfer gefallen. Und noch ein anderes unerklärliches Ereignis tritt ein, das allerdings die zweite Erzählerfigur, die junge Psychiaterin Giovanna, für sich behält. Zur selben Zeit, als die elf Menschen im Wald sterben, bricht bei ihr, die in der städtischen Klinik praktiziert, eine alte, völlig verheilte Schnittwunde wieder auf. Medizinische Erfahrung und weitere Recherchen sagen ihr, dass dieses Ereignis im Grunde unmöglich ist. Dass es dennoch passiert ist, wirft Giovanna, die ohnehin nach einer Trennung ihr Leben auf Neuanfang gestellt hat, aus der Bahn des Alltäglichen. Und als Don Ermete in der Klinik um psychiatrischen Beistand in seiner Gemeinde ersucht, in der sich nach dem Massentod im Wald die psychischen Auffälligkeiten häufen, bricht sie ihre Zelte ab und zieht nach San Giuda.

Gottesmann und Psychiaterin suchen hinfort auf ihre je eigene Weise nach Erklärungen für das Unerklärliche, dabei in keiner Weise unterstützt von der Außenwelt, in der man sich mit der These zufriedengibt, die Menschen im Wald seien einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer gefallen, und ansonsten Gras über die Sache wachsen lässt. Nein, ein Kriminalroman ist dies wahrlich nicht. Nicht die Aufklärung des Verbrechens steht in seinem Zentrum, sondern eher die Frage nach dem Ursprung der Gewalt. Ist der blutig vereiste Baum am Schauplatz des Massentodes ein Zeichen Gottes? Hat Satan diese armen Menschen auf dem Gewissen, oder war es gar Gott selbst? Mit derart ketzerischen Zweifeln plagt sich der Priester, während die Psychiaterin sich an den seelischen Versehrtheiten der Überlebenden, nicht zuletzt ihren eigenen abarbeitet.

Was also ist dieser Roman? Ein literarisch-philosophischer Versuch über Gewalt, menschliche Schuld und die Existenz des Metaphysischen? So etwas in der Art wird er wohl sein sollen. Die Lektüre bleibt jedoch letztlich unbefriedigend, was keineswegs daran liegt, dass am Schluss alle Fragen offen bleiben. Schwerer wiegt, dass auch unklar bleibt, welche Fragen eigentlich gestellt werden sollten. Das Ganze kommt so dahingeplaudert daher und entfernt sich mit der Zeit so weit von seinem ursprünglichen Erzählanlass, dass man sich schwer tut mit der Destillation von Sinnhaftigkeit aus diesem unendlichen Fluss der Worte. Laut Klappentext hat Sandro Veronesi in Italien mit diesem Buch einen Bestseller gelandet. Es ist wohl ein kulturell sehr kontextsensitives Werk. KATHARINA GRANZIN

Sandro Veronesi: „XY“. Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 292 S., 22,95 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen