Siebenmal Grün

DAS VERGESSENE REZEPT Wer jetzt in eine Tomate beißt, ist selbst schuld. Am Waldrand warten die Kräuter

■ Frische Kräuter wie Petersilie, Schnittlauch, Estragon, Kerbel, Borretsch, Majoran, Dill, Sauerampfer, Kresse, Brennnessel, Pimpernelle, Bärlauch (sehr sparsam verwenden!)

■ 4 Eigelb (gekocht)

1 kleine Zwiebel (sehr fein gehackt)

■ 150 Gramm Crème fraîche (oder saure Sahne)

■ Apfelessig, Sonnenblumenöl, Salz, Pfeffer Mindestens sieben Kräuter sehr klein schneiden – nicht im Mixer, am besten mit einem Wiegemesser. In etwas Apfelessig und Sonnenblumenöl circa fünfzehn Minuten ziehen lassen. Gekochte Eigelb mit Crème fraîche, Salz und Pfeffer verrühren und unter die Kräuter mischen. Bei Bedarf noch etwas Öl zugeben, sodass die Konsistenz nicht zu dick, sondern gerade noch flüssig ist. Passt zu gekochtem Fleisch (Tafelspitz), aber auch zu vielen anderen Gerichten.

VON PHILIPP MAUSSHARDT

Der Vorfrühling ist kulinarisch eine trostlose Zeit. Frisches Gemüse wächst noch nicht, und auf dem Markt liegen die alten Winterknollen wie Drohungen in ihren Kisten.

Wer jetzt vor Verzweiflung in eine Tomate beißt, ist selber schuld. Sie schmeckt nach gar nichts und kommt aus künstlich beheizten Gewächshäusern in Südeuropa. Als ein auf regionale Produkte fixierter Hobbykoch wollte ich mich auch dieses Jahr wieder an einem Baum im Wald aufhängen, stolperte dabei über eine Wurzel und fiel mit der Nase voraus in ein Feld aus Bärlauch. Hmmm, dachte ich, wie wäre es, ein wenig von diesen aromatischen Blättern unter eine „Grüne Sauce“ zu mischen?

Sofort steckte ich meinen Strick in die Tasche und machte mich an die Arbeit. Die ersten Boten des neuen Küchenjahrs sind die Kräuter. Sie wachsen schon, da liegt der Spargelbauer noch im Winterschlaf. Sauerampfer fand ich bereits im Februar an einer Südterrasse, und in diesen Wochen sind die Waldränder und Wiesen voll davon. Ebenso mit Borretsch, Kerbel oder Pimpernelle.

Für viele Kräuter braucht man keinen Gemüsehändler, die wachsen umsonst und draußen vor unseren Augen. Ihre Bedeutung für die heimische Küche ist allerdings verblasst. Lieber karrt man lastwagenweise Basilikum-Pesto über die Alpen. Dabei haben wir unsere „Grüne Sauce“ aus Frankfurt, die zehnmal besser schmeckt als dieses elende ewige Basilikum-Gematsche.

Für eine gute „Grie Soß“ wäre Geheimrat Goethe viele Meilen mit der Kutsche gefahren, heißt es. Er aß sie zu gekochter Rinderbrust und Kartoffeln. Irgendwo las ich einmal, Charlotte von Stein habe sich in einem Brief an Goethe darüber beschwert, dass sein Rezept der „Grie Soß“ nicht so geschmeckt habe wie bei ihm zu Hause. „Isch glaab, isch hab die Zwibbelscher vergesse“ (ich glaube, ich habe die Zwiebeln vergessen), soll Goethe geantwortet haben, aber das glaube ich auch nur, sicher weiß ich es nicht.

In Frankfurt ist vor Jahren ein Denkmal für die Grüne Sauce aufgestellt worden: sieben in den Boden eingelassene Mini-Gewächshäuser in sieben verschiedenen Grüntönen. Zum Glück hat das Beispiel keine Schule gemacht, sonst würde man heute in Stuttgart über Maultaschenskulpturen stolpern und in Nürnberg über herumliegende Bratwürste aus Stein. Vielleicht sind die Hessen aber auch nur deshalb so stolz auf ihre Grie Soß, weil sie kulinarisch nicht viel mehr zu bieten haben.

Außerhalb von Frankfurt habe ich das Gericht noch nie auf einer Speisekarte entdeckt, geschweige denn in einem Supermarktregal. Während in Ligurien ganze Industrien ihre Existenz dem Pesto verdanken und Italien das langweilige Zeug als „immaterielles Kulturgut“ bei der Unesco in Paris anmelden möchte, kommt „Exportweltmeister“ Deutschland nicht auf die Idee, die Königin seiner kalten Saucen zu vermarkten. So sieht’s aus. Darum gehe ich dieses Wochenende in meinen Wald und schaue nach, was die Pimpernelle macht.

Die Essecke: Philipp Maußhardt schreibt hier jeden Monat über vergessene Rezepte. Sarah Wiener komponiert aus einer Zutat drei Gerichte, Jörn Kabisch spricht mit Praktikern der Küche, und unsere KorrespondentInnen berichten, was in anderen Ländern gegessen wird