„Ich wollte etwas Komplexes“

Sie wollte Klischee aufbrechen, sagt „Tatort“-Regisseurin Angelina Maccarone. Das Inzest-Stereotyp von Aleviten habe sie nicht gekannt

ANGELINA MACCARONE, 42, ist Regisseurin und Drehbuchautorin. Bekannt wurde sie unter anderem durch das SM-Drama „Verfolgt“.

taz: Frau Maccarone, Sie sind Regisseurin und Drehbuchautorin des Tatorts „Wem Ehre gebührt“, in dem es um Missbrauch in einer alevitisch-türkischen Migrantenfamilie geht. Erwartet man bei einem solchen Thema von vorneherein Kontroversen?

Angelina Maccarone: Ich habe erwartet, dass dieses Tabuthema zu Diskussionen führt, weil es in Migrantenfamilien scheinbar noch schwieriger ist, über Inzest oder sexuellen Missbrauch zu sprechen und sich als Opfer zu artikulieren. Aber dass das ein altes Vorurteil über die Aleviten ist, war mir trotz ausführlicher Recherchen nicht bewusst.

Manche Aleviten vermuten, Sie seien absichtlich falsch beraten worden.

Das stimmt nicht. Ich habe alles selbst recherchiert. Wenn ich mir jetzt meine ganzen Quellen ansehe: Es steht einfach nirgends drin. Das tradiert sich scheinbar seit dem Osmanischen Reich. Das hat ja auch so was Mittelalterliches, dieses Vorurteil.

Die von ihrem Vater missbrauchte Selda distanziert sich vom Alevitentum und wendet sich einem strenggläubigen sunnitischen Islam zu.

Selda ist ein verzweifeltes Mädchen auf der Suche nach Schutz. Aber es ist in keinster Weise so, dass ich da eine Glaubensrichtung über die andere stelle. Mir ging es darum, ein Familiendrama zu erzählen, das überall vorkommen könnte. Was mir wichtig ist: Es gibt auch mehrere andere Aleviten in diesem Film, vor allem diesen Kommissar, der auch nicht darauf gekommen wäre, dass es sich um Inzest handeln könnte.

Bietet die Figur des Kommissars Attila Aslan die Möglichkeit einer alevitischen Gegensicht?

Der Film bewegt sich zwischen den zwei Polen, die durch die beiden Kommissare dargestellt werden. Die Vorurteile sind gegenseitig: Charlotte Lindholm hat welche über Moslems, dafür wirft Aslan ihr Xenophobie vor. Ich wollte etwas Komplexes machen. Ich wollte Klischees aufbrechen und zeigen, dass es keine homogene Gruppe von türkischen Migranten gibt. Der Fall selbst aber ist eine individuelle Tragödie.

Aber warum lassen Sie den Film in einer alevitischen Familie spielen?

Weil es auch um andere Fährten geht. So wird gegen den sunnitischen Schwiegersohn ermittelt. Das ist die eigentliche Stelle, an der es um Sunniten und Aleviten geht.

Wie kam es dazu, dass der NDR vor der Sendung darauf hinwies, dass es sich um eine fiktive Story handelt?

Das ist entstanden aus Protesten. Vorher haben sich schon Aleviten zu Wort gemeldet, die in der Hürriyet gelesen hatten, worum es geht. Das war ein Zugeständnis, ein Deeskalationsversuch.

INTERVIEW: KLAUS UHRIG