Alte Wunden

Rund 80 Menschen demonstrieren gegen den Tatort „Wem Ehre gebührt“. Der NDR-Krimi diffamiere die Aleviten durch die Darstellung eines Inzests und folge damit Verleumdungen religiöser Gegner

Das Alevitentum ist eine vom Islam abgespaltene Religion, die nach eigenem Bekunden „auf Humanismus und Toleranz basiert und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen“ betont. Aleviten – die rund 20 Prozent der türkischen Einwanderer ausmachen – befürworten den weltlichen Staat und tendieren politisch eher zu liberalen bis linken Positionen. Sie bilden in der Türkei nach den sunnitischen Muslimen die zweitgrößte Religionsgruppe. Jedoch gilt die alevitische Gemeinde als diskriminiert. Rund 700.000 Aleviten leben in der Bundesrepublik. in 105 Städten gibt es Interessenvertretungen. Die rund 30.000 Hamburger Aleviten werden durch das Kulturzentrum in Altona vertreten.  MAC

von FRIEDERIKE GRÄFF

Die Demonstration war nicht angekündigt. Aber als Murat Arslan vom Vorstand der alevitischen Gemeinde in Deutschland den Polizisten versicherte, dass alles friedlich bleiben würde, ließ man sie gewähren. Rund 80 Menschen waren gekommen, um am Freitagnachmittag vor dem Gelände des NDR-Fernsehens in Lokstedt gegen den Tatort „Wem Ehre gebührt“ zu protestieren, den die ARD am vergangenen Sonntag gesendet hatte.

„An die deutsche Öffentlichkeit“, so begann der Aufruf, der erst auf Deutsch und dann auf Türkisch verlesen wurde. Von der war jedoch bis auf einen Mitarbeiter des NDR, der die aufgestellte Plakattafel fotografierte – „aus privatem Interesse“, wie er betonte – wenig zu sehen. In dem Aufruf forderten die Demonstranten eine Entschuldigung für die Darstellung der Aleviten, die sie als „Diffamierung“ bezeichneten. Der Film leiste den Vorurteilen der Sunniten Vorschub, die die Aleviten nicht als rechtgläubige Muslime akzeptierten und seit Jahrhunderten behaupteten, dass unter den Aleviten Inzest üblich sei, weil Frauen und Männer dort gemeinsam beten. Daraus folgerten die Verfasser des Aufrufs, dass „die Drehbuchautorin bei ihrer Recherche über den alevitischen Glauben von fanatisch sunnitischen Beratern instrumentalisiert worden“ sei.

Unter den Demonstranten waren sich indes nicht alle einig darüber, dass der Beitrag bewusst alte Anschuldigungen aufgreife. „Ich würde nicht wagen, solch einen Vorwurf aufzustellen“, sagte etwa eine junge Frau aus Geesthacht. „Ich denke eher, dass die Autorin nicht genau recherchiert hat.“ Einig war man sich dagegen, dass die Darstellung der Aleviten verzerrend sei. Der Film zeigt, wie eine junge Alevitin zum Sunnitentum konvertiert, regelmäßig betet und einen Schleier trägt, um sich vor den Nachstellungen ihres Vaters zu schützen.

Bülent Ciftlik, Sprecher der Hamburger SPD, ist selbst Sunnit und halb aus privaten, halb aus beruflichen Gründen gekommen: Um Flagge zu zeigen gegen einen Fernsehkrimi, an dem er nichts auszusetzen gehabt hätte, wären darin Aleviten beim Banküberfall gezeigt worden. „Wenn man weiß, dass die Aleviten seit Jahrhunderten diffamiert werden, ist es absurd, das so darzustellen“, meinte ein anderer der wenigen nicht-alevitischen Teilnehmer, der mit seinem alevitischen Schwager gekommen war.

Dieser stellte sich als „Atheist“ vor, den der Film „als Mitglied der alevitischen Gesellschaft dennoch berührt“ habe. Wie viele andere Teilnehmer betonte auch er, dass die Presse- und künstlerische Freiheit für ihn durchaus Gewicht habe – die aber an Grenzen stoße, wenn gesellschaftliche Gruppen diskriminiert würden. So stand es auch auf den Plakaten zu lesen, die neben die Zeichnung geklebt wurden, auf der ein Fernsehbildschirm mit einer verschleierten Frau zu sehen war: „Ja zur Presse- und Kunstfreiheit (Art. 5 GG); Nein zur Verletzung der Würde.“

Nach einer halben Stunde war die Kundgebung auch schon wieder vorbei. Nur ein Mann aus Neumünster klebte noch die Zettel an der Plakatwand fest. Auf einem stand: „Behüte Deine Hände, Deine Zunge und Deine Lende, liebe ARD.“ Das seien „die drei Gebote der Aleviten“, sagte der Mann. „Das bedeutet, dass man nicht lügen, nicht den Besitz des anderen begehren und nicht ehebrechen soll.“ Er lebe seit 34 Jahren hier, sehe seit Jahrzehnten den Tatort und verteidige seit langem die Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Sender, sagte er. Und dass er nicht verstehe, wie sie jetzt einen solchen Film hätten zeigen können. So wenig offenbar verstand er es, dass er dahinter gar die CIA vermutete.