: Papiertiger im Häuserdschungel
Der Bildband „Street Art Hamburg“ dokumentiert die letzten vier Jahre Kunst im öffentlichen Raum der Hansestadt. Hamburgs Streetart-Szene gehört zu den beliebtesten in Deutschland. Mit einem pikanten Begleitphänomen: Mittlerweile beschäftigt sie mehr Marketingleute als Polizisten
VON MATHIAS BECKER
Hamburgs größte Freilichtausstellung ist das Schanzenviertel und seine benachbarten Quartiere. Der Eintritt ist frei und die Ausstellung wird bei laufendem Betrieb ständig erneuert. Zwischen Kiez und Schulterblatt, Karoviertel und Altona kann man eintauchen in eine ungeheure Bilderflut. An Straßenschildern kleben sie und an Laternenmasten. Sie wurden auf Hauswände gemalt und auf Stromkästen: Figuren, Symbole, Schriftzüge und kleine Texte. Kurz: Streetart. Kunst auf der Straße.
Hauseigentümern und Stadt sind die zumeist illegal angebrachten Werke ein Dorn im Auge. Der geneigte Passant hingegen mag Unterschiede erkennen, zwischen lästiger und lustiger Gestaltung. Und kann sich jetzt eine Werkschau des Treibens fürs heimische Bücherregal kaufen: Der Bildband „Street Art Hamburg“ blickt auf die letzten vier Jahre Kunst im öffentlichen Raum der Hansestadt zurück.
Bemerkenswert an einem solchen Buch ist zunächst, dass die darin gezeigten Werke, juristisch betrachtet, Sachbeschädigungen sind. Dies gilt insbesondere nach einer Gesetzesänderung vor zwei Jahren. War es vorher noch entscheidend, ob der Künstler die Substanz – einer Hauswand etwa – beschädigt hatte, reicht seither schon eine „erhebliche Veränderung“ des Erscheinungsbildes für einen Straftatbestand aus. Und war früher eine Strafverfolgung selbst bei großformatigen Sprühbildern kompliziert, könnte heute selbst das Ankleben des berühmten „Katze entlaufen“-Zettels eine Anzeige einbringen. Die Hamburger Polizei kommt dennoch kaum mit dem Thema in Berührung. „Wir nehmen das Phänomen Streetart wahr“, sagt Sprecherin Sandra Levgrün. Doch handele es sich bei Sachbeschädigung um ein Antragsdelikt. Das heißt: Wo kein Kläger, da kein Angeklagter. „Und in den Vierteln, in denen viel Streetart zu finden ist, erstattet kaum jemand Anzeige“, so Levgrün.
Fast könnte man meinen, die Hauseigentümer haben eine der Grundannahmen der Streetartists verinnerlicht: Was öffentlich sichtbar ist, gehört zum öffentlichen Raum. „Ich begreife die Stadt als Spielplatz, ich will sie mitgestalten und weiterentwickeln“, sagt „Chimäre“, einer der im Buch vertretenen Künstler. Natürlich gehe es auch darum, Berühmtheit zu erlangen, doch die könne man nur bedingt genießen, weil man seine Identität als Streetartist ja weitgehend geheim halten müsse. „In der Szene kennt man sich halt“, sagt der 34-Jährige. Zu seinen Arbeiten gehört die eigene Hand – in Gips gegossen und eine Sprühdose haltend. Die Skulpturen befestigt er an Bäumen oder Pfählen. Man könnte in ihnen einen ironischen Hinweis auf die Stammtischforderung sehen, Sprühern die „Hände abzuhacken“. Wenn man sich drauf einlasse, sei Streetart eine intelligente Kunstform, sagt „Chimäre“. Häufig spiele sie mit ihrem Untergrund oder ihrer Umgebung. „Ihre Inhalte sind oft politisch, und zugleich subtil. Medium und Botschaft sind nicht auf den ersten Blick erkennbar.“
Tatsächlich laden viele der im Buch gesammelten Bilder zum Nachdenken ein: Ein Plakat etwa zeigt einen Sträfling mit einer Eisenkugel am Bein und einem Fußball unter der Sohle. An anderer Stelle schleicht ein lebensgroßer weißer Papiertiger durch den Häuserdschungel.
Welche Kraft diese Motive und der ihnen innewohnende Mythos des Illegalen haben, hat man längst auch in den Marketingabteilungen großer Unternehmen verstanden. Der individuelle Charakter der Werke bildet einen schönen Gegensatz zur Anonymität der Großstadt. Ihr Image der frechen Aneignung des urbanen Raumes verkauft sich gut.
„Wenn selbst Motorola Streetart machen lässt, ist es schwer, darin noch eine Innovation zu erkennen“, sagt „56 K“. Der Grafiker und Künstler, dessen Werke ebenfalls im Buch vertreten sind, zählt zu den bekanntesten Hamburger Streetartists. Er möchte aber lieber nicht mehr so genannt werden. „Man sieht zwar überall lustige Figuren auf der Straße, aber selten ist etwas Neues dabei“, findet der 29-Jährige. Und wendet sich vermehrt der Arbeit im Atelier zu. In seinen Augen hat Streetart die Werbung bereits umgekrempelt. „Jetzt ist es Zeit, die Kunst von ihrem hohen Ross zu holen“, folgert „56 K“.
Dennoch: Nachdem Berlin mit „Street Art – Die Stadt als Spielplatz“ bereits 2006 ein umfassendes Porträt erhalten hatte, war ein Band über die Bilder in Hamburgs Straßen fällig. Zwar präsentiert sich das A 5-Querformat in der Buchhandlung ziemlich handlich neben den opulenten Dokumentationen der internationalen Streetart-Szene. Und für wirklich gute Optik bietet dieses Format einfach keinen Platz. Dafür findet sich jede Menge Lokalkolorit, sortiert nach Künstlern oder Medien wie Aufkleber, Plakat oder Schablone. Der Leser erhält einen Überblick über weit verbreitete und ansprechende Motive in Hamburg, auch wenn das nur bedingt möglich ist, weil die Freilichtausstellung sich täglich verändert. Als Alternative zum Kauf bleibt deshalb, selbst auf Motivsuche zu gehen. Aber dafür ist es zu kalt.
Jan P. Schildwächter, Britt Eggers: Street Art Hamburg. Junius Verlag Hamburg, 176 Seiten, 19,90 Euro
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