Das soll Pop sein?

Die Kunst funktioniert, das Geld lässt auf sich warten: Die Band Mutter taucht nach zwei Jahren Abstinenz heute Abend im Festsaal Kreuzberg wieder auf, mit kritischen und unbeirrbar ehrlichen Texten, wie seit 20 Jahren

Die Band Mutter ist ein Phänomen. Paradox, eigenwillig, fast mythisch trägt sie sich durch den erlahmenden Diskurspop und fährt Geschütze auf wie „Ich schäme mich Gedanken zu haben, die andere in ihrer Würde verletzen“. Max Müller, Sänger der Band und verantwortlich für diese Wortgewalt, hat seine eigene Rhetorik, die von Einfachheit und emotionalem Reduktionismus geprägt ist. Das Innerste wird nach außen gekehrt. Sei es noch so peinlich, intim oder eben politisierend.

Gesellschaftskritik im Pop wirkt bei Mutter nicht ermüdend, sondern ihrer Funktion entsprechend auffordernd und bewusstseinsbildend. Musik und Text funktionieren nun schon beständig seit über 20 Jahren – und das in einer so unpeinlich resoluten Form, dass man von Klasse und Souveränität sprechen darf. Während die Kunst funktioniert, ließ der Erfolg eher auf sich warten. Die Band Mutter, obwohl in bestimmten Kreisen populär, hat es nie geschafft, Geld mit ihrem Wahnsinn zu machen.

Jochen Distelmeyer sagte einmal: „Das hat kein Schwein wahrgenommen – das ist aber das Geilste gewesen.“ Die „relative Erfolglosigkeit“ wie Max Müller das nennt, entspringt wohl seinen Texten, die keinen poppigen Erwartungen entsprechen und reiner Ehrlichkeit unterliegen. Authentizität, machen, was man will (und kann), Aufrichtigkeit – das sind die Prämissen seiner Kunst. Das künstlerische Selbstverständnis spiegelt sich in seiner Lyrik wieder: Die radikale Freiheit der Sprache wird hier bis aufs Äußerste ausgereizt. Schonungslos teilt er dem Publikum die Abgründe des Lebens mit. Politisches wird zu Privatem und durch die Intensität zwangsläufig wieder zum Politischen: Lieder wie „Israel“, „Michael“ oder „Krieg ist vorbei“ sind direkt, politisierend, entwaffnet, gut. Bestehende Grenzen werden verschoben, Tabus zweckfrei gebrochen.

Fragen werden gestellt, die man sich selbst nicht traut zu fragen: „Mit wem wohnst du zusammen und was redest du mit ihm? Ich stell mir irgendetwas vor und weiß doch nicht, ob es wirklich so ist.“ Alltägliches wird entschlüsselt, und siehe da: Die Selbstverständlichkeit, in der man tagtäglich lebt, ist nicht verpflichtend. Bei einigen Stücken ist man wie damals bei Blumfelds „Lass uns nicht von Sex reden“ geneigt, peinlich berührt leiser zu stellen, falls eine Person den Raum betreten sollte. Vergleichbar mit dem früheren Jochen Distelmeyer hat auch Max Müller keine Angst vor möglichen Peinlichkeiten. Fast kann man so weit gehen zu sagen: Er ist kompromissloser, als Distelmeyer es je war. In Zeiten von Medialisierung, Verkommerzialisierung von Künstlern und belanglosem Entertainment im Show-Biz macht Mutter ihr „eigenes Ding“, unbeirrt von öffentlicher Wahrnehmungsgier und Plattenverkäufen.

Ihr ehemaliger Labelchef Alfred Hilsberg klagte einst, dass Mutter-Platten wie „schwere Steine“ seien, die er dann „zu den Leuten tragen muss, ohne sie zu erschlagen“. So ist das also mit einem Diskurspop, der nicht populär sein kann, weil er kritisch und unbeirrbar Dinge hinterfragt, mit denen sich kein Mensch auseinandersetzen will.

Musikalisch nicht definierbar, ist Mutter gerade live ein emotionsgeladener Rausch. Das experimentelle Gewitter aus Rock, Kraut, Minimal – mal leise, mal laut, mal schreiend, mal flüsternd, mal schwelgerisch, mal brachial – befördert den Rezipienten in Sphären zwischen wahnsinniger Leichtigkeit und einer unfassbar zu erlebenden Schwere. Ein irrer Zustand, der jedoch eins bewusst macht: die Reduktion der Gedanken auf das Wesentliche im Leben. Für den einen ist es das private Glück, für den anderen das nächste große Ding (/die Revolution). Alte Träume werden zu neuen.

Nun treten Mutter nach zweijähriger Abstinenz wieder im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Berliner Wald“ auf die Bühne. Der Grund sind neue Stücke, die in Arbeit sind. SIMONE JUNG

Mutter live am 30. 12. im Festsaal Kreuzberg