Lob des Revisionismus

Es war schon schräg, wenn Theologiestudenten das atheistische Albanien verteidigten

VON JÜRGEN WANDEL

Ein Mitschüler, nennen wir ihn Gerhard, und ich stiegen von unseren Rädern ab. Wir warteten auf die anderen, die mit uns an den Bodensee gefahren waren. Viel gesprochen hatte ich mit Gerhard nie, geschweige denn Sex gehabt. Umso mehr überraschte mich, dass er mir gestand, er habe „mit dem Wichsen aufgehört“.

Ich wusste sofort, woher Gerhards Sinneswandel kam. Schließlich besuchte er eine Jugendgruppe, die „Jungenschaft“ jenes Katecheten, der seit den frühen Fünfzigerjahren das „Evangelische Jugendwerk“ meiner südwürttembergischen Heimatstadt leitete. Berüchtigt waren seine Aufklärungsstunden, in denen er vor der Selbstbefriedigung warnte, wegen Rückenmarksschwund und so. Für mich hatte dies mit christlichem Glauben nichts zu tun, ich fand es nur komisch und abstoßend. Und so hielt ich mich von dem Katecheten und dem Jugendwerk fern.

Doch dann stellte unsere Kirchengemeinde einen hauptamtlichen Jugendreferenten an: Christoph, der nur einige Jahre älter war als wir und uns das Du anbot, bestach durch seine liebenswürdige und offene Art. Daher engagierte ich mich in seiner Jugendgruppe. Sofort schafften wir ein Kernstück evangelischer Jugendarbeit ab, die „Bibelarbeit“, die Auslegung eines Bibelabschnittes mit anschließendem Gespräch darüber.

Solche Neuerungen waren dem Katecheten ein Dorn im Auge – wie die Sympathie unserer Pfarrer für die Ostpolitik der neuen Bundesregierung. Als er einsah, dass er gegen Christoph und die von ihm begeisterten Jugendlichen nichts mehr ausrichten konnte, warf er Gott sei Dank das Handtuch.

Zugegeben, verglichen mit dem, was zur selben Zeit, achtundsechzig, in Berlin und vielen Universitätsstädten passierte, war das, was in meiner Kirchengemeinde geschah, ein Sturm im Wassergläschen. Und von einem entkrampften Umgang mit der Sexualität waren wir noch weit entfernt. Jenseits unserer Vorstellungskraft lag, was mittlerweile in deutschen Landeskirchen möglich ist: dass schwule und lesbische Geistliche mit ihren Liebsten zusammenleben.

Heute halte ich es für sinnvoll, dass sich evangelische Jugendgruppen mit der Bibel beschäftigen. Doch damals empfanden wir die Bibelarbeit als Symbol, ja Instrument einer repressiven Jugendarbeit. Und dagegen rebellierten wir. Damals lernten wir: Fortschritt ist möglich, Verhältnisse lassen sich verändern und Amtsinhaber absetzen. Und darin bestärkte uns auch, was anderswo geschah.

Ich hörte von der Vollversammlung des Weltkirchenrates, die 1968 in Uppsala zusammentrat. Sie forderte die Kirchen auf, Rassismus und die Ausbeutung der Dritten Welt zu bekämpfen. Und noch heute sehe ich ein Foto vor mir, das junge katholische Priester in den USA bei einer Sitzblockade, einem Sit-in, zeigt. Bei der Bundestagswahl 1969 warb die FDP mit dem Slogan: „Wir schneiden die alten Zöpfe ab.“ Und Willy Brandt versprach, „mehr Demokratie zu wagen“. Dies sprach das Lebensgefühl meiner Generation an. Und mich prägt es bis heute.

Daran konnten auch die Erfahrungen nichts ändern, die ich einige Jahre später beim Theologiestudium in Tübingen machte. Dort lernte ich die andere Seite von Achtundsechzig kennen.

Den Vietnamkrieg hatte ich schon als Schüler abgelehnt, nicht weil ich mit dem Vietcong sympathisierte, sondern weil mich die Kriegsverbrechen der US-Armee erschütterten. Selbstverständlich nahm ich an einer Kundgebung gegen den Vietnamkrieg teil, die in der überfüllten „Turn- und Festhalle“ meiner Heimatstadt stattfand und bei der Altkirchenpräsident Martin Niemöller sprach.

Doch als wenige Jahre später in Tübingen linke Sozialdemokraten forderten, die Bundesrepublik solle wegen der Kriegführung der USA aus der Nato austreten, widersprach ich. Diese Forderung hielt ich politisch wie militärisch für unsinnig. Doch damit hatte ich mich als Parteigänger des Imperialismus entlarvt und wurde in Grund und Boden geredet.

Als Lob empfand ich dagegen die ebenfalls negativ gemeinte Bezeichnung „Revisionist“, mit der mich Mitstudierende belegten, wenn ich die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition verteidigte. Als ich ihnen erzählte, dass Eduard Bernstein, der Begründer des Revisionismus, 1917 aus der SPD ausgetreten war, weil er ihre Bewilligung der Kriegskredite ablehnte, schauten sie mich großäugig an. Denn (historische) Bildung war nicht die Stärke derer, die sich in den Siebzigerjahren als Erben der Achtundsechziger betrachteten.

Als besonders absurd empfand ich, dass einige Theologiestudenten das kommunistische Regime Albaniens auch dann noch verteidigten, als es Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärte. Was heute komisch klingt, war damals alles andere als witzig. Denn die lautstarke Minderheit, die sich unter Theologiestudierenden der radikalen Linken verschrieben hatte, in Tübingen eher den K-Gruppen als der realsozialistischen DKP, behandelte Andersdenkende, Linksliberale wie mich, als Feinde, nicht als Gegner. Ein höhnisches „Du willst ja nur Oberkirchenrat werden“ gehörte noch zu den harmloseren Vorwürfen. Öfter wurden meine Freunde und ich als „Faschisten“ denunziert.

Nun sind viele jener intoleranten Kommilitonen später, wie ich gehört habe, gute Pfarrerinnen und Pfarrer geworden. Und meine Narben sind verheilt. Geblieben ist Skepsis gegenüber Leuten, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen und nur ein Entweder-oder kennen. Trotzdem teile ich nicht die pauschale Schelte für die Achtundsechziger.

Zu wohltuend war der frische Wind, der seit 1967/68 durch die Provinz wehte und den Muff wegblies, der sich auch unter Pfarrerstalaren abgelagert hatte. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die von sogenannten Kritikern der Achtundsechziger geprägt wird. Solchen wie Kai Diekmann, dessen Bild-Zeitung Tag für Tag die niederen Instinkte ihrer Leserschaft bedient.

Übrigens: Mein Mitschüler Gerhard hielt seinen Vorsatz nicht durch. Aber seinem Rückgrat hat der Rückfall offensichtlich nicht geschadet. Beim letzten Klassentreffen hielt Gerhard sich tapfer aufrecht.

JÜRGEN WANDEL, Jahrgang 1952, ist Pfarrer und Redakteur des evangelischen Magazins Zeitzeichen in Berlin