Wie politisch kann Kochen sein?

In den Elendsvierteln von Lima haben sich Frauen in Gemeinschaftsküchen zusammengeschlossen / Sie widersetzen sich politischer Vereinnahmung und nehmen nur Hilfe an, die nicht mit Bedingungen verknüpft wird / Die Linke will die autonomen Frauengruppen nicht anerkennen  ■  Von Gabriela Simon

Schwarze Rauchschwaden wehen uns entgegen, während wir einen der steilen, sandigen Bergabhänge hinaufsteigen. Oben, auf einer freien Fläche, sind einige Frauen damit beschäftigt, Müll zu „entsorgen“. Sie haben die Abfälle zusammengetragen und angezündet; jetzt verpestet der giftige Qualm die Luft im ganzen Bezirk. Wir befinden uns in Comas, mit mehr als 300.000 EinwohnerInnen eines der großen Elendsviertel im Norden der peruanischen Hauptstadt Lima.

Hier im Bezirk Ano Nuevo gibt es weder eine funktionierende Müllabfuhr noch Kanalisation oder fließendes Wasser, obwohl der Bezirk schon 30 Jahre alt ist. Vor jedem Haus steht ein rostiger Wasserkanister, der einmal wöchentlich für teures Geld aufgefüllt wird. Das Wasser wird in Tankwagen aus nahegelegenen Brunnen herbeigeschafft und ist oft von zweifelhafter Qualität. Müllabfuhr, fließendes Wasser und Kanalisation - das sind die dringendsten Forderungen, für die die BewohnerInnen der Elendsviertel in den Nachbarschaftsorganisationen seit vielen Jahren kämpfen.

Doch solange diese Forderungen nicht erfüllt sind - und das kann Jahrzehnte dauern -, ist es Sache der Frauen, das Leben unter solchen Bedingungen zu organisieren. Sie schlagen sich Tag für Tag mit dem Müll herum, versuchen, für ein Minimum an Hygiene zu sorgen und bewirtschaften das kostbare Wasser. Der Alltag dieser Frauen ist geprägt von einem nie zu bewältigenden Pensum harter Arbeit und von dem Zwang, ständig nach Mitteln und Wegen zu suchen, ihre sechs- bis achtköpfigen Familien trotz des völlig unzureichenden Einkommens ihrer Männer irgendwie zu ernähren.

Zur Ökonomie des Einkaufszettels

Flor, Teresa und Elsa kochen heute in der Gemeinschaftsküche, in die mich Beatriz zuerst führt. Beatriz ist Sozialarbeiterin und hat mich bei einer ihrer regelmäßigen Fahrten nach Comas mitgenommen. Natürlich mußten die Frauen vorher gefragt werden, ob die ausländische Besucherin überhaupt erwünscht ist. „Die Senorita soll ruhig kommen und sich informieren“, hatte die Antwort gelautet.

Die Senorita wird umgehend auf einer Holzbank plaziert, der einzigen Sitzgelegenheit in dem aus Brettern gezimmerten und mit Matten abgedeckten Raum. Ansonsten gibt es hier noch einen Tisch, auf dem das Essen zubereitet wird, und einen zweiflammigen Gasherd, der von irgend einer karitativen Organisation erbeten werden mußte. Darauf dünstet in zwei riesigen Kochtöpfen die Mahlzeit für elf Familien: ein Eintopf aus Kartoffeln und preiswertem Gemüse. Irgendwo soll sich darin auch noch ein Pfund Hühnerfleisch befinden, von dem ich allerdings nichts entdecken kann.

Gemeinschaftsküchen, „Comedores Populares“, werden meist von zehn bis 15 Frauen gebildet, um durch gemeinsames Kochen die Ernährung ihrer Familien zu verbessern. Flor erläutert mir den Einkaufszettel. 350 Intis werden für die Mahlzeit pro Tag ausgegeben. Jeden zweiten Tag gibt es ein bißchen Hühnerfleisch - ein Pfund für elf sechs- bis achtköpfige Familien, also für ungefähr 80 Menschen. Die Arbeiten wie Kochen, Einkaufen und Abspülen machen unter den elf Frauen die Runde.

Die männlichen Geldverdiener bringen teilweise einen Mindestlohn mit nach Hause, oder sie arbeiten als Straßenhändler oder Gelegenheitsarbeiter ohne gesichertes Einkommen. Im März lag der Mindestlohn bei 3.200 Intis, das sind ein wenig mehr als 100 Intis (umgerechnet etwa ein Dollar) pro Tag für eine sechs- bis achtköpfige Familie. Der 50-Liter-Kanister Wasser kostete zu diesem Zeitpunkt 20 Intis, ein Liter Milch 19 Intis, ein Kilo Reis ebenfalls 19 Intis, Speiseöl 43 Intis der Liter, ein Kilo Margarine 68 Intis. Zu den Ausgaben für Grundnahrungsmittel kommen noch die Kosten für Strom, Busfahrten und Kleidung. Die Literflasche Bier kostet 42 Intis.

Das relativ billige Essen in den Gemeinschaftsküchen ist längst für viele zur Überlebensbedingung geworden. Trotz der miserablen materiellen Bedingungen gelingt es den Comedores sogar, einzelne Familien in schwierigen Zeiten mitzuziehen, wenn sie z.B. vorübergehend gar kein Einkommen haben. In den Comedores Populares haben die Frauen Überlebenstechniken entwickelt, die auf gemeinschaftlicher Anstrengung und Solidarität beruhen.

In den Fängen der Wohltätigkeit

Aber das Elend hat auch eine politische, genauer gesagt: eine „entwicklungspolitische“ Dimension. Unzählige staatliche, religiöse, kommerzielle und wohltätige Organisationen haben die Elendsviertel Limas in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht in Beschlag genommen. Von den politisch konditionierten Lebensmittelhilfen durch regierungsnahe Institutionen bis hin zu den Programmen der Caritas, über die die USA mit unschwer zu durchschauenden politischen und ökonomischen Hintergedanken einen Teil ihrer Getreideüberschüsse an die Frauen hier verteilen, wurde durch „Hilfe“ ein Netz von Abhängigkeiten geschaffen, in dem sich auch viele der Frauenorganisationen verfangen haben.

Für Beatriz heißt Hilfe für Frauen hier deshalb in erster Linie Unterstützung unabhängiger weiblicher Organisationen. Beatriz arbeitet bei CESIP, einer jener Nicht -Regierungsorganisationen, die versuchen, gegen die Strukturen der Abhängigkeit zu wirken. Statt Lebensmittel zu verteilen, bemüht sich CESIP darum, die Autonomie der weiblichen Organisationen durch juristische, organisatorische und politische Beratung zu stärken. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf der Unterstützung der Bewegung der Comedores Populares.

Weibliche Überlebensarbeit

Als eigenständige Bewegung sind die Comedores Populares zu Beginn der 80er Jahre entstanden. Ihr Nährboden war der rasante Verelendungsprozeß unter der konservativen Regierung Belaunde (1980 bis 1985), deren Wirtschaftspolitik sich streng an den Vorgaben des IWF orientierte. Die zunehmende Erwerbslosigkeit in den Elendsvierteln verfestigte die materiellen Strukturen der Armut und verlangte den Frauen immer mehr „Überlebensarbeit“ ab. Eine von CESIP im Jahre 1985 durchgeführte Umfrage kommt zu dem Ergebnis, daß der Arbeitstag der Frauen in COMAS durchschnittlich 15,5 Stunden lang ist, und das sieben Tage in der Woche. Das ergibt eine Wochenarbeitszeit von 107,5 Stunden. Dabei zeigte sich, daß die abnehmende Erwerbstätigkeit von den Frauen durch mehr Hausarbeit und durch zusätzliche Arbeit in gemeinschaftlichen Einrichtungen ausgeglichen werden muß.

Häufig sind Lebensmittelhilfen von staatlichen Institutioonen an die Mitarbeit in kommunalen Arbeitsprogrammen gekoppelt, wo teilweise schwere körperliche Arbeit verrichtet werden muß. Im Rahmen solcher Programme müssen die Frauen beispielsweise den überall herumliegenden Müll beseitigen oder Wege anlegen. Auch karitative Organisationen binden ihre Hilfe oft an die Teilnahme an gemeinnützigen Arbeitsprogrammen. Diese Arbeit wird den ärmsten Frauen abverlangt, die sich an die „Hilfsorganisationen“ wenden, um ihre Familien ernähren zu können.

Bisweilen fügt sich die Arbeit karitativer Organisationen nahtlos in die Interessen kommerzieller Unternehmen. Da ist z.B. die religiöse „Schwester“, die den Frauen in abendlichen Kursen Stricktechniken beibringt (auch für die Teilnahme an solchen Kursen werden Lebensmittel verteilt). Ihr folgt der Textilunternehmer, der die Frauen gegen ein lächerliches Entgelt in Heimarbeit Pullover stricken läßt. Die Pullover, auf die die Frauen abends ihre letzten Energien verwenden, um sich und ihrer Familie ein paar Intis dazuzuverdienen, werden dann für teures Geld und mit dem Prädikat „Handarbeit“ in in- und ausländischen Boutiquen verkauft.

In diesem Geflecht von Armut, Abhängigkeit und Ausbeutung hatten sich in der Vergangenheit auch die Frauenorganisationen verstrickt. Die „Mütterklubs“ beispielsweise, in den sechziger Jahren mit dem Ziel der gegenseitigen Hilfe gegründet, sind schnell zu bloßen Vermittlern zwischen den Frauen und den „Hilfsorganisationen“ bzw. den kommerziellen Ausbeutern umfunktioniert worden. Sie sind heute entweder von der Regierungspartei oder von privaten Organisationen abhängig. Die Comedores Populares versuchen, sich diesen Fallstricken der Abhängigkeit zu entziehen, obwohl nur wenige von ihnen ganz auf Lebensmittelhilfen verzichten können. Es gilt der Grundsatz, daß nur unkonditionierte Hilfe angenommen wird.

Nur karitative Arbeit?

Während meines Gesprächs mit den Frauen im Comedor hat Beatriz einige Familien besucht, mit den Frauen gesprochen, sich nach kranken Kindern erkundigt. Der teilweise eher karitative Charakter ihrer Arbeit macht sie unzufrieden. „Oft frage ich mich, was wir hier eigentlich tun. Am Ende helfen wir den Frauen nur, mit den Problemen fertig zu werden, die diese Gesellschaft produziert.“ Wie die meisten Frauen, die bei CESIP oder in ähnlich orientierten Organisationen arbeiten, war Beatriz lange Jahre in einer der linken Parteien aktiv, bevor sie die Frauen „entdeckte“. Seitdem wird um das politische Selbstverständnis gerungen, was nicht gerade einfach ist. Die Reaktionen ihrer ehemaligen Genossen reichen von Ignoranz, nach dem Motto „die kochen ja nur“, bis zum Vorwurf, „die Bewegung“ zu spalten.

Beatriz ist sich jedoch sicher, daß die Bedeutung der Gemeinschaftsküchen weit über die bloße Überlebenshilfe hinausgeht. Da ist z.B. die gemeinsame Organisation der Arbeit, die Selbstverwaltung in organisatorischen und finanziellen Dingen. Da sind die vielen Gespräche, in denen die Frauen entdecken, daß ihre Probleme mit den Männern, mit der Arbeit, mit ihrer Gesundheit gemeinsame Probleme aller Frauen im Viertel sind. Da ist die Tatsache, daß die normalerweise „unsichtbare“ Hausarbeit aus ihrer privaten Sphäre herausgelöst und so für alle sichtbar und öffentlich gemacht wird. Und schließlich seien die Comedores Populares, so Beatriz, inzwischen auch zu einer hochpolitischen Bewegung geworden.

Die politische Brisanz der Gemeinschaftsküchen gründet sich vor allem darauf, daß diese sich bis jetzt stur allen Versuchen der politischen Vereinnahmung widersetzt haben ein Novum in der Geschichte der sozialen Bewegungen in den Elendsvierteln, deren BewohnerInnen von den Parteien immer wieder als politische Manövriermasse mißbraucht werden. Dementsprechend feindselig haben bis jetzt alle Regierungsparteien auf die Bewegung der Comedores Pupulares reagiert.

Die Autonomie und die Linken

Aber auch das Verhältnis zu den linken Parteien ist alles andere als harmonisch. In der Phase der linken Stadtregierung in Lima, zwischen 1983 und 1986, fußte die Kommunalpolitik wesentlich auf der Zusammenarbeit mit unabhängigen Frauenorganisationen, deren Bedeutung für den Bereich der häuslichen Reproduktion inzwischen auch von den linken Parteien anerkannt wird. Konflikte traten aber auf, sobald die Frauenorganisationen nicht mehr nur als ausführende Organe, sondern auch bei der politischen Konzipierung der Programme mitarbeiten wollten. Als autonome politische Bewegung stoßen die Frauengruppen bei den Linken oft auf rüde Ablehnung.

Auf exemplarische Weise verdeutlicht das ein Auszug aus einem Interview, das vor ein paar Jahren im Rahmen einer Studie einer Gruppe peruanischer FrauenforscherInnen entstanden ist. Es handelt sich um den Bericht einer Frau, die als Mitglied einer Delegation einen der ersten Versuche miterlebte, Frauenorganisationen in den Gremien der Volksbewegung der Elendsviertel zu verankern, in denen die Linken eine dominierende Position haben. „Sie haben uns beleidigt. Sie haben uns schlecht behandelt. Sie sagten, daß wir hier nichts zu suchen hätten und auch kein Stimmrecht haben könnten, weil wir nur Mütterklubs seien und uns damit beschäftigten, Milch zu verteilen. Geht zum Kochen oder zum Waschen nach Hause, sagten sie, das hier ist ein politischer Kongreß.“

Diese Frauen sind damals nach Hause gegangen. Einige sind auch nicht mehr wiedergekommen. Die anderen haben es in zäher Arbeit inzwischen erreicht, sich als eigenständige politische Bewegung eine gewisse Anerkennung zu verschaffen und die Frauenorganisationen in den Gremien der Volksbewegung zu verankern.

Im Vergleich zu den Basisorganisationen der Linken hat die Bewegung der Frauen aber eine andere Gangart hervorgebracht. Im Unterschied etwa zu den Nachbarschaftsorganisationen, deren Aktivitäten sich auf die Durchsetzung bestimmter Forderungen konzentrieren, steht bei den Frauen die Organisierung praktischer Lebenszusammenhänge im Vordergrund. Zu den Gemeinschaftsküchen gesellen sich jetzt auch Handwerkskooperativen, in denen die Frauen versuchen, ihre handwerklichen Fähigkeiten in eigener Regie zu nutzen und sich so von der Ausbeutung durch Heimarbeit freizumachen.

Um billiger an die Lebensmittel ranzukommen, haben die Comedores Populares in verschiedenen Distrikten angefangen, Kontakte zu Bauernvereinigungen zu knüpfen. Und damit der direkte Einkauf der Lebensmittel beim Produzenten klappt, müssen sich die vielen kleinen Gemeinschaftsküchen organisatorische Strukturen aufbauen. Auf Distriktebene haben sich die Comedores Populares schon Koordinationsgremien geschaffen. Zur Zeit wird an einer Dachorganisation für die circa 400 Comedores Populares in Gesamt-Lima gearbeitet.

Die Furcht der Männer

Durch diese Vielzahl öffentlicher weiblicher Aktivitäten wird auch die patriarchale Ordnung in den Familien langsam aber sicher unterminiert. Oft ist schon die bloße Mitarbeit in der Gemeinschaftsküche eine kleine Revolution. Ausnahmslos alle Frauen, mit denen ich in verschiedenen Comedores gesprochen habe, berichteten, daß sie deshalb Schwierigkeiten mit ihren Männern haben. Die Männer fürchten sich vor den Gemeinschaftsküchen, die den Frauen auch kleine Freiräume bieten, in denen sie Unbabhängigkeit und Selbstbewußtsein entwickeln.

Flor verkündet aus heiterem Himmel, daß sie sich demnächst von ihrem Mann scheiden läßt. „Dieser Typ“ verstehe nicht, worauf es im Leben ankommt, er verstehe einfach überhaupt nichts. Sie schmunzelt, nein, sie meint das nicht ganz so ernst, aber sie liebt es, mit solchen Respektlosigkeiten zu kokettieren. Niemand glaubt ihr, aber allen macht es Spaß, ihr zuzusehen, wie sie das Gemüse zerkleinert, gelegentlich ihre Hände an der Schürze abwischt und dabei lautstark über „diesen Typen“ lästert. Flor genießt ihr Selbstbewußtsein in vollen Zügen, sie lacht, sie hat keine Angst.