EG '92: Billiger Schnaps und teure Schuhe

Die Angleichung der europäischen Verbrauchssteuern wird eine Welle von Preisänderungen durch das ganze Haus der Gemeinschaft schwappen lassen  ■  Von Alexander Smoltczyk

Während Brüsseler Spitzenbeamte mit leuchtenden Augen vom Binnenmarkt 1992 erzählen, wie sonst nur ihre Kinder vom Weihnachtsmann, will in den Pubs von Dundalk keine Stimmung aufkommen. Denn wenn sich das Schicksal Europas an seinen Grenzen entscheiden sollte, so kann den Bewohnern entlang der irisch-irischen Grenze das ganze Projekt gestohlen bleiben. Denn auch ohne europäische Freizügigkeit a la Delors herrscht bereits heute auf der Landstraße zwischen Newry und Dundalk ein reger Verkehr, besonders nach elf Uhr abends, wenn die Zollhäuschen geschlossen und die Straße damit frei ist: Zigaretten und Guiness, Benzin und ganze Autos werden im Norden der Insel gekauft und im republikanischen Süden konsumiert oder mit Gewinn verkloppt. Der hohe Mehrwertsteuersatz in Irland von 25 Prozent, gegenüber den 15 Prozent in Nord-Irland macht das Geschäft möglich, und die Iren denken sich: Na, wenigstens einen Vorteil hat sie doch, die Spaltung unserer Insel.

Aus und vorbei wird es bald mit dem geschäftigen Treiben sein. Das ist klar, seit sich die Regierungen der EG-Länder 1985 in Mailand geeinigt haben, die Verbrauchssteuern auf Energie, Tabak und Alkohol europaweit zu vereinheitlichen und die bisher noch stark differierenden Mehrwertsteuersätze einander anzugleichen.

Das Glück der Männer ist das Grauen der Frauen: „Ich lese in den Zeitungen, daß die Alkoholpreise um ein Drittel fallen werden. Die Männer hier werden darüber völlig ausflippen. Man sollte meinen, daß die Politiker mehr im Kopf haben, als die Schnapspreise zu senken und die Lebensmittelpreise zu erhöhen“, meint die Dublinerin Mary, Mutter von fünf Kindern. Sie fürchtet zu Recht, daß die bisher in Irland von der Mehrwertsteuer ausgenommenen Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Bücher, Kinderkleidung und Schuhe in Zukunft mit bis zu neun Prozent besteuert werden könnten.

Einige hundert Kilometer Europa weiter, in einer Kleinstadt im Latium. Die Aussichten sind nicht sonniger: „Der Normalsatz der Mehrwertsteuer liegt zwar derzeit bei 19 Prozent und damit in der für 1992 vorgesehenen Spanne,“ meint Maurizio Recchio, Steuerberater in Terracina, „aber davon gibt es unzählige Ausnahmen - sie füllen im italienischen Gesetzestext 14 engbedruckte Seiten.“ Grundnahrungsmittel wie Spaghetti und Landwein etwa werden mit nur zwei Prozent besteuert, ebenso Dienstleistungen wie Stadtreinigung und Kindergarten. Nach Brüsseler Vorstellungen sollen all diese Waren mit einem Satz belegt werden, der zwischen vier und neun Prozent liegen wird. Auch hier das gleiche Bild wie in Irland: Die Grundnahrungsmittel werden etwas teurer, die bisher als Luxus eingestuften Waren billiger. So ist zumindest Signor Recchio, der nicht schlecht verdient, zufrieden, daß Sekt und Mittelklassewagen mit höchstens 20 Prozent besteuert werden.

Weil die Angleichung der Verbrauchssteuern direkt in die fiskalischen Steuerungsmöglichkeiten des (National-)Staats eingreift, gilt sie als das „schwierigste Gebiet“ des EG -Ausbaus zum gemeinsamen Binnenmarkt, nicht nur für Bundessteuermann Stoltenberg.

Worum es ihm und seinen Kollegen geht, zeigt sich noch ein Stückchen weiter südlich, an der Grenze zu Griechenland, seit Perikles‘ Zeiten das Paradies für Im- und Exporteure. Bislang galt das „Bestimmungslandprinzip“: Der Käufer zahlt für jede importierte Ware den einheimischen Steuersatz. Oft allerdings nur murrend.

Ein Athener, der sich aus Rüsselsheim oder Sindelfingen ein Auto mitbringt, bekommt zwar die in der BRD gezahlten 14 Prozent Mehrwertsteuer an der österreichischen Grenze zurück, doch nur um an der griechischen Grenze satte 30 Prozent Steuern zu berappen, gar nicht gerechnet die bis zu 100prozentigen Aufschläge für den griechischen Zoll, für die Exporteure aus Resteuropa ein glatter Fall von „Wettbewerbsverzerrung“.

Marktfetischisten unter den Finanzwissenschaftlern feiern daher die Aufhebung national-feudalistischer Relikte wie Luxussteuern als Sturm auf die Bastille. „Wohlfahrtsgewinne“ seien zu erwarten, wenn jeder Verbraucher im Supermarkt Europa mit „wahren“ Warenpreise, die nicht durch Steuern verzerrt sind, rechnen könnte. Großbritanniens liberalem Schatzmeister Nigel Lawson allerdings geht schon die Euro -Steuerreform viel zu weit: Er sieht selbst in einer noch so geringen Besteuerung von Grundnahrungsmitteln - die in England wie auch in Portugal bisher steuerfrei sind - eine Sünde wider den Heiligen Geist des Marktes.

Anders Michel Rocard, Premierminister eines Landes, dessen Staat sich zu 45 Prozent durch die Mehrwertsteuer finanziert (BRD: 15 Prozent). Er rechnete vor, daß dem französischen Staatshaushalt durch die Reform 95 bis 120 Milliarden Francs verloren gehen würden. Die Zahl ist reichlich übertrieben und berücksichtigt nicht die zu erwartenden Mehreinnahmen durch die Anhebung etwa der Tabak- und Alkoholsteuer. Dennoch: Um Zeit zu gewinnen, kündigte Rocard vorsorglich an, sich an den Ministerratsbeschluß nicht zu halten.

Für die meisten Staatskassen der EG werden sich Mehreinnahmen und Ausgaben im Gefolge der Steuerreform allerdings die Waage halten. Das Berliner DIW errechnete nur für Dänemark und Großbritannien eine Netto-Verarmung des Staates (Irland und die Neumitglieder wurden nicht berücksichtigt).

So sind die ökologischen Folgen der Reform bedenklicher als die fiskalischen. Italiens Autofahrer zahlen zur Zeit 88 Pfennig Steuer auf ihr Benzin, ihre britischen Gesinnungsgenossen nur 53 Pfennig. Das wird anders im Binnenmarkt: Ab 1992 zahlen alle Europäer 70 Pfennig auf Benzin und 37 auf Diesel. Konsequenz: In Italien wird billiger und mehr Auto gefahren, und Großbritannien wird auf Diesel umsteigen, ebenso wie die Bundesbürger. Denn hierzulande dürfte „der dann bestehende viermal größere Abstand zwischen der Besteuerung von Benzin und Dieselöl spürbare Verbraucherreaktionen hervorrufen“, so das DIW. Oder wird in dem zukünftigen Gebilde EG '92 zum Ausgleich weniger gereist werden - weil ohnehin überall alles gleich (teuer) sein wird?

Unter Mitarbeit der taz-Korrespondenten in Dublin, Rom und Athen