Intimität mit sich selbst

■ Wilhelm Genazino berichtete der Presse über seine Arbeit mit Oslebshauser Häftlingen, die aus ihnen weder Schriftsteller noch Therapierte machen soll

In Norbert Gstreins Erzählung „Einer“ tut einer, dem Schlimmes wiederfährt, der aber nicht darüber reden kann, am Ende etwas, für das ihn die Polizei abholt. Daß Schreiben, also Ausdruck, befreit, hört Wilhelm Genazino von denen, die Polizei ins Gefängnis Oslebshausen gebracht hat. Ungefähr zwanzig Männer treffen sich seit dem 1. September mit Genazino jeden Samstag von drei bis halb sechs in der Gefängisbibliothek. Sechs bis sieben kommen immer, die anderen unstetiger. Sie reden mit dem Schriftsteller, der dazu jede Woche aus Frankfurt anreist, über Literatur, über's Schreiben, und sie schreiben Texte - nicht alle, aber die, die wollen - und besprechen sie.

Die Idee zu diesem ziemlich einmaligen Modellprojekt hatte die Leiterin der Stadtbibliothek,

Martha Höhl. Sie gewann den Deutschen Literaturfonds Darmstadt zur Finanzierung, zunächst für sechs Monate, die jetzt um zweieinhalb verlängert wurden. Und sie gewann Wilhelm Genazino, durch Lesungen im Essener Strafvollzug 'bewährt‘, für die Mitarbeit. Genazino ist Journalist, hat für „Pardon“ geschrieben, Hörspiele und Romane verfaßt. Auf der Pressekonferenz kam er mir vor wie ein angenehm vorsichtiger Mensch mit dem Hang zum Licht-unter-den -Scheffel-stellen. Verständlich und erstaunlich zugleich, daß so einer für die Knackis das geworden ist, was Erhard Hoffmann, der Leiter der Oslebshauser Anstalt, eine „Integrationsfigur“ nennt. Einer, ohne den die spannungsreiche Runde auseinanderfliegen würde.

Spannungen, sagt Genazino,

gibt es. Zum Beispiel zwischen denen, die nur über den Knast, und denen, die über alles, aber nicht darüber reden wollen. Oder zwischen den drogenabhängigen Häftlingen und denen, für die die Abhängigen der letzte Dreck sind. Und zwischen denen, die mehr Autorität verlangen, wie der, der einen Mithäftling ausgeschlossen haben wollte, und dem Schriftsteller, der nicht ins Gefängnis kommt, um sich der Logik des Ein-und Auschließens zu unterwerfen.

Es gibt noch zwei Dinge, die er nicht will: aus Strafgefangenen Schriftsteller machen und Therapeut spielen. Das Treffen soll Sprache, auch Aussprache ermöglichen, und „Intimität mit sich selber“. Therapie aber, berichtet Genazino, darin sind sich alle einig, bringt nichts, wollen sie nicht. Einige aber warten auf

eine Art geistiges Erlebnis, das ihnen z.B. aus der Sucht heraushilft. „Wer das will“, glaubt Genazino, „der wird das auch eines Tages haben.“

Er macht Mut. Einen, der Kindergeschichten zu schreiben begonnen hat, aber Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hat, ermutigt er, im Gefängnis einen Deutschkurs zu belegen und das als Chance zu begreifen. Und er greift auf. Das Wort Blümelein, das ein Häftling in ein Gedicht schreibt, wurde Anlaß, über Worte zu reden, die vom Faschismus verschlissen sind, Worte von Paul Celan anzuhören, die noch benutzbar sind und einen Aufsatz von Walter Benjamin über faschistische Ästhetik. Ich habe mich gewundert, was dieser Mann seinen Häftlingen zumutet und damit anzukommen scheint.

Uta Stolle